Frühjahr 1888 15 [1-120]
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Renaissance und Reformation
Was beweist die Renaissance? Daß das Reich des “Individuums” nur kurz sein kann. Die Verschwendung ist zu groß; es fehlt die Möglichkeit selbst, zu sammeln, zu capitalisiren, und die Erschöpfung folgt auf dem Fuße. Es sind Zeiten, wo Alles verthan wird, wo die Kraft selbst verthan wird, mit der man sammelt, capitalisirt, Reichthum auf Reichthum häuft ... Selbst die Gegner solcher Bewegungen sind zu einer unsinnigen Kraft-Vergeudung gezwungen; auch sie werden alsbald erschöpft, ausgebraucht, öde.
Wir haben in der Reformation ein wüstes und pöbelhaftes Gegenstück zur Renaissance Italiens, verwandten Antrieben entsprungen, nur daß diese im zurückgebliebenen, gemeingebliebenen Norden sich religiös verkleiden mußten,—dort hatte sich der Begriff des höheren Lebens von dem des religiösen Lebens noch nicht abgelöst.
Auch mit der Reformation will das Individuum zur Freiheit; “jeder sein eigner Priester” ist auch nur eine Formel der Libertinage. In Wahrheit genügte Ein Wort—“evangelische Freiheit”—und alle Instinkte, die Grund hatten, im Verborgenen zu bleiben, brachen wie wilde Hunde heraus, die brutalsten Bedürfnisse bekamen mit Einem Male den Muth zu sich, Alles schien gerechtfertigt ... Man hütete sich zu begreifen, welche Freiheit man im Grunde gemeint hatte, man schloß die Augen vor sich ... Aber daß man die Augen zumachte und die Lippen mit schwärmerischen Reden netzte, hinderte nicht, daß die Hände zugriffen wo etwas zu greifen war, daß der Bauch der Gott des “freien Evangeliums” wurde, daß alle Rache- und Neidgelüste sich in unersättlicher Wuth befriedigten ... Dies dauerte eine Weile: dann kam die Erschöpfung, ganz so wie sie im Süden Europas gekommen war; und auch hier wieder eine gemeine Art der Erschöpfung, ein allgemeines ruere in servitium ... Es kam das unanständige Jahrhundert Deutschlands ...