Frühjahr 1888 15 [1-120]
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Der gute Mensch. Oder: die Hemiplegie der Tugend.— Für jede starke und Natur gebliebene Art Mensch gehört Liebe und Haß, Dankbarkeit und Rache, Güte und Zorn, Ja-thun und Nein-thun zu einander. Man ist gut, um den Preis, daß man auch böse zu sein weiß; man ist böse, weil man sonst nicht gut zu sein verstünde. Woher nun jene Erkrankung und ideologische Unnatur, welche diese Doppelheit ablehnt—, welche als das Höhere lehrt, nur halbseitig tüchtig zu sein? Woher die Hemiplegie der Tugend, die Erfindung des guten Menschen? Die Forderung geht dahin, daß der Mensch sich an jenen Instinkten verschneidet, mit denen er Feind sein kann, schaden kann, zürnen kann, Rache heischen kann ... Dieser Unnatur entspricht dann jene dualistische Conception eines bloß guten und eines bloß bösen Wesens (Gott, Geist, Mensch), in ersterem alle positiven, in letzterem alle negativen Kräfte, Absichten, Zustände summirend.— Eine solche Werthungsweise glaubt sich damit “idealistisch”; sie zweifelt nicht daran, eine höchste Wünschbarkeit in der Conception “des Guten” angesetzt zu haben. Geht sie auf ihren Gipfel, so denkt sie sich einen Zustand aus, wo alles Böse annullirt ist und wo in Wahrheit nur die guten Wesen übrig geblieben sind. Sie hält es also nicht einmal für ausgemacht, daß jener Gegensatz von Gut und Böse sich gegenseitig bedinge; umgekehrt, letzteres soll verschwinden und ersteres soll übrig bleiben, das Eine hat ein Recht zu sein, das Andere sollte gar nicht da sein ... Was wünscht da eigentlich? — —
Man hat sich zu allen Zeiten und sonderlich zu den christlichen Zeiten viel Mühe gegeben, den Menschen auf diese halbseitige Tüchtigkeit, auf “den Guten” zu reduziren: noch heute fehlt es nicht an kirchlich Verbildeten und Geschwächten, denen diese Absicht mit der “Vermenschlichung” überhaupt oder mit dem “Willen Gottes” oder mit dem “Heil der Seele” zusammenfällt. Hier wird als wesentliche Forderung gestellt, daß der Mensch nichts Böses thue; daß er unter keinen Umständen schade, schaden wolle ... Als Weg dazu gilt: die Verschneidung aller Möglichkeiten zur Feindschaft, die Aushängung aller Instinkte des ressentiment, der “Frieden der Seele” als chronisches Übel.
Diese Denkweise, mit der ein bestimmter Typus Mensch gezüchtet wird, geht von jener absurden Voraussetzung aus: sie nimmt das Gute und das Böse als Realitäten, die mit sich im Widerspruch sind (nicht als complementäre Werthbegriffe, was die Wahrheit wäre), sie räth die Partei des Guten zu nehmen, sie verlangt, daß der Gute dem Bösen bis in die letzte Wurzel entsagt und widerstrebt,—sie verneint thatsächlich damit das Leben, welches in allen seinen Instinkten sowohl das Ja wie das Nein hat. Nicht daß sie dies begriffe: sie träumt umgekehrt davon, zur Ganzheit, zur Einheit, zur Stärke des Lebens zurückzukehren: sie denkt es sich als Zustand der Erlösung, wenn endlich der eignen innern Anarchie, der Unruhe zwischen zwei entgegengesetzten Werth-Antrieben ein Ende gemacht wird.— Vielleicht gab es bisher keine gefährlichere Ideologie, keinen größeren Unfug in psychologicis als diesen Willen zum Guten: man zog den widerlichsten Typus den unfreien Menschen groß, den Mucker, man lehrte, eben nur als Mucker sei man auf dem rechten Wege zur Gottheit, nur ein Mucker-Wandel sei ein göttlicher Wandel ...
— Und selbst hier noch behält das Leben recht—das Leben welches das Ja nicht vom Nein zu trennen weiß—: was hilft es, mit allen Kräften den Krieg für böse zu halten, nicht schaden, nicht Nein thun zu wollen! man führt doch Krieg! man kann gar nicht anders! Der gute Mensch, der dem Bösen entsagt hat, behaftet, wie es ihm wünschbar scheint, mit jener Hemiplegie der Tugend, hört durchaus nicht auf, Krieg zu führen, Feinde zu haben, Nein zu sagen, Nein zu thun. Der Christ zum Beispiel haßt die “Sünde” .. Und was ist ihm nicht alles “Sünde”! Gerade durch jenen Glauben an einen Moral-Gegensatz von Gut und Böse ist ihm die Welt vom Hassenswerthen, vom Ewig-zu-Bekämpfenden übervoll geworden. “Der Gute” sieht sich wie umringt vom Bösen und unter dem beständigen Ansturm des Bösen, er verfeinert sein Auge, er entdeckt unter all seinem Tichten und Trachten noch das Böse:—und so endet er, wie es folgerichtig ist, die Natur für böse, den Menschen für verderbt, das Gutsein als Gnade (das heißt als menschenunmöglich) zu verstehen.— In summa: er verneint das Leben, er begreift, wie das Gute als oberster Werth das Leben verurtheilt ... Damit sollte seine Ideologie von Gut und Böse ihm als widerlegt gelten. Aber eine Krankheit widerlegt man nicht ... Und so concipirt er ein anderes Leben! ...