Frühjahr 1888 15 [1-120]
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Die Verführung der Menschheit unter dem Mantel der heiligsten Absicht
der verbrecherische Gebrauch, der bisher mit dem Worte “Wahrheit” getrieben worden ist
Ich habe eine schlimme und verhängnißvolle Geschichte zu erzählen, die Geschichte des längsten Verbrechens, der unseligsten Verführung, der überlegtesten Giftmischerei, das eigentlich schwarze Ereigniß der Menschheit, unter dessen Bann die tiefsten Instinkte des Lebens verketzert und in Frage gestellt worden sind ...
P[riester]: sie verwechseln Ursache und Wirkung
P[riester]: sie verwechseln die Ruhe als Stärke und die Ruhe als Ohnmacht
Sollte man glauben, daß es möglich wäre, über Ursache und Wirkung einen Irrthum zu verbreiten, so daß man die Wirkung als Ursache empfindet? Es scheint unmöglich: aber unter der Verführung der Moral ist es gelungen ...
Man hat zu allen Zeiten, seitens der Priester, den Verfall eines Geschlechts, eines Volks, als Strafe für seine Laster, für seine Ungläubigkeit und Freigeisterei, dargestellt man hat insgleichen Krankheit, Seuchen, Geisteskrankheiten als Folgen von Entfremdung vom Glauben dargestellt,
umgekehrt hat man langes Leben und Glück der Familie und Nachkommenschaft als Lohn für die Frömmigkeit und Gesetzes-Erfüllung in Aussicht gestellt
heute sagen wir umgekehrt: die Tüchtigkeit eines Menschen seine “Rechtschaffenheit” ist die Folge langer glücklicher Ehen und der Ausdruck einer vernünftigen Wahl der Zu-Paarenden,—dadurch können Kräfte aufsummirt werden ..., ein Ausdruck vom Glück der Vorfahren
Laster, Verbrechen, Krankhaftigkeit, Irrsinn, Libertinage auch die geistige, sind Folgen der décadence, Symptome derselben,—sie sind folglich unheilbar ...
Die Frömmigkeit der Familien verbürgt so wenig eine gesunde und glückliche Nachkommenschaft, daß gerade unter den frömmsten, hereditär frömmsten Familien im jetzigen Europa die geistigen Störungen, die Melancholie erblich sind ... Es ist der Ausdruck eines leidenden und bedrängten Typus, die Frömmigkeit so sehr nöthig zu haben, um das Leben zu ertragen: unsere Pietisten sind nicht aus Belieben Christen ...