Frühjahr 1888 15 [1-120]
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Christenthum
Man hat bisher das Christenthum immer auf eine falsche und nicht bloß schüchterne Weise angegriffen. So lange man nicht die Moral des Christenthums als Capital-Verbrechen am Leben empfindet, haben dessen Vertheidiger gutes Spiel. Die Frage der bloßen “Wahrheit” des Christenthums, sei es in Hinsicht auf die Existenz seines Gottes, oder die Geschichtlichkeit seiner Entstehungs-Legende, gar nicht zu reden von der christlichen Astronomie und Naturwissenschaft—ist eine ganz nebensächliche Angelegenheit, solange die Werthfrage der christlichen Moral nicht berührt ist. Taugt die Moral des Christenthums etwas oder ist sie eine Schändung und Schmach trotz aller Heiligkeit der Verführungskünste? Es giebt Schlupfwinkel jeder Art für das Problem von der Wahrheit; und die Gläubigsten können zuletzt sich der Logik der Ungläubigsten bedienen, um sich ein Recht zu schaffen, gewisse Dinge als unwiderlegbar zu affirmiren—nämlich als jenseits der Mittel aller Widerlegung (—dieser Kunstgriff heißt sich heute “Kantischer Kriticismus” —