Frühjahr 1888 15 [1-120]
15 [42]
“Besserung” | XIV |
Kritik der heiligen Lüge.
Daß zu frommen Zwecken die Lüge erlaubt ist, das gehört zur Theorie aller Priesterschaften,—wie weit es zu ihrer Praxis gehört, soll der Gegenstand dieser Untersuchung sein.
Aber auch die Philosophen, sobald sie mit priesterlichen Hinterabsichten die Leitung der Menschen in die Hände zu nehmen beabsichtigen, haben sofort auch sich ein Recht zur Lügezurecht gemacht: Plato voran. Am großartigsten ist die doppelte durch die typisch-arischen Philosophen des Vedanta entwickelte: zwei Systeme, in allen Hauptpunkten widersprüchlich, aber aus Erziehungszwecken sich ablösend, ausfüllend, ergänzend. Die Lüge des Einen soll einen Zustand schaffen, in dem des anderen Wahrheit überhaupt hörbar wird ...
Wie weit geht die fromme Lüge der Priester und der Philosophen?— Man muß hier fragen, welche Voraussetzungen zur Erziehung sie haben, welche Dogmen sie erfinden müssen, um diesen Voraussetzungen genug zu thun?
Erstens: sie müssen die Macht, die Autorität, die unbedingte Glaubwürdigkeit auf ihrer Seite haben
Zweitens: sie müssen den ganzen Naturverlauf in Händen haben, so daß alles, was den Einzelnen trifft, als bedingt durch ihr Gesetz erscheint
Drittens: sie müssen auch einen weiter reichenden Machtbereich haben, dessen Controle sich den Blicken ihrer Unterworfenen entzieht: das Strafmaaß für das Jenseits, das “Nach-dem-Tode”,—wie billig auch die Mittel, zur Seligkeit den Weg zu wissen
Sie haben den Begriff des natürlichen Verlaufs zu entfernen: da sie aber kluge und nachdenkliche Leute sind, so können sie eine Menge Wirkungen versprechen, natürlich als bedingt durch Gebete oder durch strikte Befolgung ihres Gesetzes ...
sie können insgleichen eine Menge Dinge verordnen, die absolut vernünftig sind,—nur daß sie nicht die Erfahrung, die Empirie als Quelle dieser Weisheit nennen dürfen, sondern eine Offenbarung, oder die Folge “härtester Bußübungen”
die heilige Lüge bezieht sich also principiell: auf den Zweck der Handlung (—der Naturzweck, die Vernunft wird unsichtbar gemacht, ein Moral-Zweck, eine Gesetzeserfüllung, eine Gottesdienstlichkeit erscheint als Zweck
: auf die Folge der Handlung (—die natürliche Folge wird als übernatürliche ausgelegt, und, um sicher zu wirken, es werden uncontrolirbare andre übernatürliche Folgen in Aussicht gestellt.
auf diese Weise wird ein Begriff von Gut und Böse geschaffen, der ganz und gar losgelöst von dem Naturbegriff “nützlich” “schädlich” lebenfördernd, “lebenvermindernd” erscheint—er kann, insofern ein andres Leben erdacht ist, sogar direkt feindselig dem Naturbegriff von Gut und Böse werden
auf diese Weise wird endlich das berühmte “Gewissen” geschaffen: eine innere Stimme, welche bei jeder Handlung nicht den Werth der Handlung an ihren Folgen mißt, sondern in Hinsicht auf die Absicht und Conformität dieser Absicht mit dem “Gesetz”
Die heilige Lüge hat also
einen strafenden und belohnenden Gott erfunden, der exakt das Gesetzbuch der Priester anerkennt und exakt sie als seine Mundstücke und Bevollmächtigten in die Welt schickt
ein Jenseits des Lebens, in dem die große Straf-Maschine erst wirksam gedacht wird,—zu diesem Zwecke die “Unsterblichkeit der Seele”
das Gewissen im Menschen, als das Bewußtsein davon, daß Gut und Böse feststeht,—daß Gott selbst hier redet, wenn es die Conformität mit der priesterlichen Vorschrift anräth
die Moral als Leugnung alles natürlichen Verlaufs, als Reduktion alles Geschehens auf ein moralisch-bedingtes Geschehen, die Moralwirkung (d.h. die Straf- und Lohn-Idee) als die Welt durchgringend, als einzige Gewalt, als creator von allem Wechsel
die Wahrheit als gegeben, als geoffenbart, als zusammenfallend mit der Lehre der Priester: als Bedingung alles Heils und Glücks in diesem und jenem Leben
In summa: womit ist die moralische Besserung bezahlt?
Aushängung der Vernunft, Reduktion aller Motive auf Furcht und Hoffnung (Strafe und Lohn)
Abhängigkeit von einer priesterlichen Vormundschaft, von einer Formalien-Genauigkeit, welche den Anspruch macht, einen göttlichen Willen auszudrücken
die Einpflanzung eines “Gewissens”, welches ein falsches Wissen an Stelle der Prüfung und des Versuchs setzt
: wie als ob es bereits feststünde, was zu thun und was zu lassen wäre—eine Art Castration des suchenden und vorwärts strebenden Geistes
: in summa, die ärgste Verstümmelung des Menschen, die man sich vorstellen [kann], angeblich als “der gute Mensch”
In praxi ist die ganze Vernunft, die ganze Erbschaft von Klugheit, Feinheit, Vorsicht, welche die Voraussetzung des priesterlichen Kanons ist, willkürlich hinterdrein auf eine bloße Mechanik reduzirt
die Conformität mit dem Gesetz gilt bereits als Ziel, als oberstes Ziel,—das Leben hat keine Probleme mehr —
die ganze Welt-Conception ist beschmutzt mit der Strafidee ...
das Leben selbst ist, mit Hinsicht darauf, das priesterliche Leben als das non plus ultra der Vollkommenheit darzustellen, in eine Verleumdung und Beschmutzung des Lebens umgedacht ...
der Begriff “Gott” stellt eine Abkehr vom Leben, eine Kritik, eine Verachtung selbst des Lebens dar ...
die Wahrheit ist umgedacht als die priesterliche Lüge, das Streben nach Wahrheit als Studium der Schrift, als Mittel, Theolog zu werden ...