Frühjahr 1888 15 [1-120]
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Eine Vorrede
Ich habe das Glück und sei’s die Ehre selbst noch mit, nach ganzen Jahrtausenden der Verirrung und Verwirrung, den Weg wiedergefunden zu haben, der zu einem Ja und einem Nein führt.
Ich lehre das Nein [zu] Allem, was schwach macht—was erschöpft.
Ich lehre das Ja zu Allem, was stärkt, was Kraft aufspeichert, was den Stolz — — —
Man hat weder das Eine noch das Andre bisher gelehrt: man hat Tugend, Entselbstung, Mitleiden, man hat selbst Verneinung des Lebens gelehrt ... Dies sind alles Werthe der Erschöpften
Ein langes Nachdenken über die Physiologie der Erschöpfung zwang mich zu der Frage, wie weit die Urtheile Erschöpfter in die Welt der Werthe eingedrungen seien.
Mein Ergebniß war so überraschend wie möglich, selbst für mich, der in mancher fremden Welt schon zu Hause war: ich fand alle obersten Werthurtheile, alle, die Herr geworden sind über die Menschheit, mindestens zahm gewordene Menschheit, zurückführbar auf die Urtheile Erschöpfter.
Ich habe erst nöthig zu lehren, daß das Verbrechen, das Coelibat, die Krankheit Folgen der Erschöpfung sind ...
Unter den heiligsten Namen zog ich die zerstörerischen Tendenzen heraus; man hat Gott genannt, was schwächt, Schwäche lehrt, Schwäche inficirt ... ich fand, daß der “gute Mensch” eine Selbstbejahungs-Form der décadence ist.
Jene Tugend, von der noch Schopenhauer gelehrt hat, daß sie die oberste, die einzige und das Fundament aller Tugenden sei: eben jenes Mitleiden erkannte [ich] als gefährlicher als irgend ein Laster. Die Auswahl in der Gattung, ihre Reinigung vom Abfall grundsätzlich kreuzen—das hieß bisher Tugend par excellence ...
Die Rasse ist verdorben—nicht durch ihre Laster, sondern ihre Ignoranz: sie ist verdorben, weil sie die Erschöpfung nicht als Erschöpfung verstand: die physiologischen Verwechslungen sind die Ursache alles Übels [weil] ihr Instinkt durch die Erschöpften verleitet wurde, ihr Best[es] zu verbergen und das Schwergewicht zu verlieren ... Hinunter stürzen—das Leben verneinen—das sollte auch als Aufgang, als Verklärung, als Vergöttlichung empfunden werden
Die Tugend ist unser großes Mißverständniß.
Problem: wie kamen die Erschöpften dazu, die Gesetze der Werthe zu machen?
Anders gefragt: wie kamen die zur Macht, die die Letzten sind? ... Erkenne die Geschichte! Wie kommt der Instinkt des Thieres Mensch auf den Kopf zu stehn? ...
Ich wünsche, den Begriff “Fortschritt” zu präcisiren und fürchte, daß ich dazu nöthig habe den modernen Ideen ins Gesicht zu schlagen (—mein Trost ist, daß sie keine Gesichter haben, sondern nur Larven ...
Man soll kranke Glieder amputiren: erste Moral der Gesellschaft.
Eine Correktur der Instinkte: ihre Loslösung von der Ignoranz ...
Ich verachte die, welche es von der Gesellschaft verlangen daß sie sich sicher stellt gegen ihre Schädiger. Das ist bei weitem nicht genug. Die Gesellschaft ist ein Leib an dem kein Glied krank sein darf, wenn er nicht überhaupt Gefahr laufen will: ein krankes Glied, das verdirbt, muß amputirt werden: ich werde die amputablen Typen der Gesellschaft bei Namen nennen ...
Man soll das Verhängniß in Ehren halten: das Verhängniß, das zum Schwachen sagt: geh zu Grunde ...
Man hat es Gott genannt, daß man dem Verhängniß widerstrebte,—daß man die Menschheit verdarb und verfaulen machte ... Man soll den Namen Gottes nicht unnützlich führen ...
Wir haben fast alle psychologischen Begriffe, an denen die bisherige Geschichte der Psychologie—was heißt der Philosophie!—hing, annullirt wir leugnen, daß es Willen giebt (gar nicht zu reden vom “freien Willen”)
wir leugnen Bewußtsein, wie als Einheit und Vermögen
wir leugnen, daß gedacht wird (: denn es fehlt uns das was denkt und insgleichen das was gedacht wird
wir leugnen, daß zwischen den Gedanken eine reale Causalität besteht wie sie die Logik glaubt
Meine Schrift wendet sich gegen alle natürlichen Typen der décadence: ich habe die Phänomene des Nihilismus am umfänglichsten durchdacht
d.h. der geborene Vernichter — — —