Frühjahr 1888 15 [1-120]
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Der Phänomenalismus der “inneren Welt”
die chronologische Umdrehung, so daß die Ursache später ins Bewußtsein tritt, als die Wirkung.
wir haben gelernt, daß der Schmerz an eine Stelle des Leibes projicirt wird, ohne dort seinen Sitz zu haben
wir haben gelernt, daß die Sinnesempfindung, welche man naiv als bedingt durch die Außenwelt ansetzt, vielmehr durch die Innenwelt bedingt ist: daß jede eigentliche Aktion der Außenwelt immer unbewußt verläuft ... Das Stück Außenwelt, das uns bewußt wird, ist nachgeboren nach der Wirkung die von außen auf uns geübt ist, ist nachträglich projicirt als deren “Ursache” ...
In dem Phänomenalismus der “inneren Welt” kehren wir die Chronologie von Ursache und Wirkung um.
Die Grundthatsache der “inneren Erfahrung” ist, daß die Ursache imaginirt wird, nachdem die Wirkung erfolgt ist ...
Dasselbe gilt auch von der Abfolge der Gedanken ... wir suchen den Grund zu einem Gedanken, bevor er uns noch bewußt ist: und dann tritt zuerst der Grund und dann dessen Folge ins Bewußtsein ...
Unser ganzes Träumen ist die Auslegung von Gesammt-Gefühlen auf mögliche Ursachen: und zwar so, daß ein Zustand erst bewußt wird, wenn die dazu erfundene Causalitäts-Kette ins Bewußtsein getreten ist ...
die ganze “innere Erfahrung” beruht darauf, daß zu einer Erregung der Nerven-Centren eine Ursache gesucht und vorgestellt wird—und daß erst die gefundene Ursache ins Bewußtsein tritt: diese Ursache ist schlechterdings nicht adäquat der wirklichen Ursache,—es ist ein Tasten auf Grund der ehemaligen “inneren Erfahrungen”—d.h. des Gedächtnisses. Das Gedächtniß erhält aber auch die Gewohnheiten der alten Interpretat[ion], d.h. deren irrthümliche Ursächlichkeiten ... so daß die “innere Erfahrung” in sich noch die Folgen aller ehemaligen falschen Causal-Fiktionen zu tragen hat
unsere “Außenwelt”, wie wir sie jeden Augenblick projiciren, ist versetzt und unauflöslich gebunden an den alten Irrthum vom Grunde: wir legen sie aus mit dem Schematismus des “Dings”
so wenig der Schmerz in einem einzelnen Falle bloß den einzelnen Fall darstellt, vielmehr eine lange Erfahrung über die Folgen gewisser Verletzungen, eingerechnet die Irrthümer in der Abschätzung dieser Folgen
Die “innere Erfahrung” tritt uns ins Bewußtsein, erst nachdem sie eine Sprache gefunden hat, die das Individuum versteht ... d.h. eine Übersetzung eines Zustandes in ihm bekanntere Zustände —
“verstehen” das heißt naiv bloß: etwas Neues ausdrücken können in der Sprache von etwas Altem, Bekanntem
z.B. “ich befinde mich schlecht”—ein solches Urtheil setzt eine große und späte Neutralität des Beobachtenden voraus—: der naive Mensch sagt immer: das und das macht, daß ich mich schlecht befinde—er wird über sein Schlechtbefinden erst klar, wenn er einen Grund sieht, sich schlecht zu befinden ...
Das nenne ich den Mangel an Philologie: einen Text als Text ablesen können, ohne eine Interpretation dazwischen zu mengen, ist die späteste Form der “inneren Erfahrung”,—vielleicht eine kaum mögliche ...