Frühjahr 1888 15 [1-120]
15 [110]
Altruismus
Damit daß das Christenthum die Lehre von der Uneigennützigkeit und Liebe in den Vordergrund gerückt hat, hat es durchaus noch nicht das Gattungs-Interesse für höherwerthig angesetzt als das Individual-Interesse. Seine eigentlich historische Wirkung, das Verhängniß von Wirkung bleibt umgekehrt gerade die Steigerung des Egoismus, des Individual-Egoismus bis ins Extrem (—bis zum Extrem der Individual-Unsterblichkeit.) Der Einzelne wurde durch das Christenthum so wichtig genommen, so absolut gesetzt daß man ihn nicht mehr opfern konnte: aber die Gattung besteht nur durch Menschenopfer ... Vor Gott werden alle “Seelen” gleich: aber das ist gerade die gefährlichste aller möglichen Werthschätzungen! Setzt man die Einzelnen gleich, so stellt man die Gattung in Frage, so begünstigt man eine Praxis, welche auf den Ruin der Gattung hinausläuft: das Christenthum ist das Gegenprincip gegen die Selektion. Wenn der Entartende und Kranke (“der Christ”) so viel Werth haben soll wie der Gesunde (“der Heide”), oder gar noch mehr, nach Pascal’s Urtheil über Krankheit und Gesundheit, so ist der natürliche Gang der Entwicklung gekreuzt und die Unnatur zum Gesetz gemacht ... Diese allgemeine Menschenliebe ist in Praxi die Bevorzugung alles Leidenden, Schlechtweggekommenen, Degenerirten: sie hat thatsächlich die Kraft, die Verantwortlichkeit, die hohe Pflicht, Menschen zu opfern, heruntergebracht und abgeschwächt. Es blieb, nach dem Schema des christlichen Werthmaaßes, nur noch übrig, sich selbst zu opfern: aber dieser Rest von Menschenopfer, den das Christenthum concedirte und selbst anrieth, hat, vom Standpunkte der Gesammt-Züchtung aus, gar keinen Sinn. Es ist für das Gedeihen der Gattung gleichgültig, ob irgend welche Einzelne sich selbst opfern (—sei es in mönchischer und asketischer Manier oder mit Hülfe von Kreuzen, Scheiterhaufen und Schaffotten, als “Märtyrer” des Irrthums) Die Gattung braucht den Untergang der Mißrathenen, Schwachen, Degenerirten: aber gerade an sie wendete sich das Christenthum, als conservirende Gewalt, sie steigerte noch jenen an sich schon so mächtigen Instinkt der Schwachen, sich zu schonen, sich zu erhalten, sich gegenseitig zu halten. Was ist die “Tugend”, was “Menschenliebe” im Christenthum, wenn nicht eben diese Gegenseitigkeit der Erhaltung, diese Solidarität der Schwachen, diese Verhinderung der Selektion? Was ist der christliche Altruismus, wenn nicht der Massen-Egoismus der Schwachen, welcher erräth, daß wenn alle für einander sorgen, jeder Einzelne am längsten erhalten bleibt? ... Wenn man eine solche Gesinnung nicht als eine extreme Unmoralität, als ein Verbrechen am Leben empfindet, so gehört man zur kranken Bande und hat selber deren Instinkte ... Die ächte Menschenliebe verlangt das Opfer zum Besten der Gattung—sie ist hart, sie ist voll Selbstüberwindung, weil sie das Menschenopfer braucht. Und diese Pseudo-Humanität, die Christenthum heißt, will gerade durchsetzen, daß Niemand geopfert wird ...