Frühjahr 1888 15 [1-120]
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Wagner hat lauter Krankheitsgeschichten in Musik gesetzt, lauter interessante Fälle, lauter ganz moderne Typen der Degenerescenz, die uns gerade deshalb verständlich sind. Nichts ist von den jetzigen Ärzten und Physiologen besser studirt als der hysterisch-hypnotische Typus der Wagnerschen Heldin: Wagner ist hier Kenner, er ist naturwahr bis zum Widerlichen darin—seine Musik ist vor allem eine psychologisch-physiologische Analyse kranker Zustände—sie dürfte als solche ihren Werth noch behalten, selbst wenn ein Geschmack ganz [— — —] und sie als Musik nicht mehr erschölle. Daß die lieben D[eutschen] dabei von Urgefühlen germanischer Tüchtigkeit und Kraft zu schwärmen verstehen, gehört zu den scherzhaften Anzeichen der psychologischen Cultur der Deutschen:—wir Anderen sind bei W[agners] Musik im Hospital und, nochmals gesagt, sehr interessirt ... Die Krankhaftigkeit ist bei Wagner nicht gewollt, nicht Zufall, nicht Ausnahme—sie ist die Essenz seiner Kunst, ihr Instinkt, ihr “Unbewußtes”, sie ist ihre Unschuld: die Sensibilität, das tempo des Affekts, Alles hat an ihr Theil, das Reich der [—] ist von ungeheurer Breite
Senta, Elsa, Isolde, Brünnhilde, Kundry: eine artige Galerie von Krankheitsfällen—wie instinktiv Wagner das Weib als krankes Weib versteht, giebt die sonst natürlicher gerathene Eva aus den M[eistersingern] zu verstehen:—Wagner kann nicht umhin ihr eine zwanzig Minuten lange Attitüde zu geben, deren wegen wir das artige Geschöpf unfehlbar unter psychiatrische Aufsicht stellen würden. Gegen die Helden Wagners ist zunächst einzuwenden, daß sie allesammt einen krankhaften Geschmack haben—sie lieben lauter Weiber, die ihnen zuwider sein müßten ... Sie lieben lauter unfüchtbare Weiber—alle diese “Heldinnen” verstehen sich nicht darauf ein Kind zu machen—die Ausnahme ist interessant genug: um [Sieglinde] zu einem Kinde zu verhelfen, hat Wagner der Sage Gewalt angethan—und vielleicht nicht nur der Sage: nach Wagnerscher Phy[si]ologie ist nur die Blutschande eine Gewährschaft für Kinder ... Brünnhilde selbst— — —