Frühjahr 1888 15 [1-120]
15 [6]
1.
Die Eruption der Kunst Wagners: sie bleibt unser letztes großes Ereigniß in der Kunst. Wie vulkanisch geht es überall seitdem zu! Sehr laut vor allem: man hat heute die Ohren nicht mehr wie ehemals, um zu verstehen! ... Man hat sie beinahe, um Nichts mehr zu verstehen! .. Wagner selbst vor Allem bleibt unverstanden. Er ist immer noch eine terra incognita. Man betet ihn einstweilen an. Will man auch ihn verstehen? Der typische Wagnerianer, ein in jedem Betreff viereckiges Wesen, glaubt an Wagner: ersichtlich auch an einen viereckigen Wagner .. aber Wagner war Alles Andere als viereckig: Wagner war “Wagnerisch”. Ich habe mich gefragt, ob überhaupt schon Jemand dagewesen ist, modern, morbid, vielfach und krumm genug, um als vorbereitet für das Problem Wagner zu gelten? Höchstens in Frankreich: Ch. Baudelaire z.B. Vielleicht auch die Gebrüder Goncourt. Die Verfasser der “Faustine” würden sicherlich Einiges an Wagner errathen .. aber es fehlte ihnen die Musik im Leibe.— [Vgl. Edmond Huot de Goncourt, La Faustin. Paris: Charpentier, 1882.] Hat man begriffen, daß die Musiker allesammt keine Psychologen sind? Das Hier-Nicht-wissen-wollen gehört bei ihnen zum Handwerk, sagen wir, zum Genie ihres Handwerks ... sie würden sich nicht mehr trauen, wenn sie sich verstünden ... Man sagt nicht umsonst den Begriffen und den Worten Valete: man will ins Unbewußte .. Daraus folgt etwas Betrübendes: entweder ist Jemand Musiker: und dann versteht er die Herren Musiker nicht (sich selbst eingerechnet)—wohl aber die Musik. Oder aber er ist Psycholog: und dann versteht er wahrscheinlich die Musik nicht genug und folglich auch nicht die Herren Musiker ... Das ist die Antinomie. Und deshalb giebt es über Beethoven so gut wie über Wagner den Musiker bisher nur Geschwätz. —
2.
Glücklicher Weise ist Wagner nur zu einem Bruchtheil Musiker gewesen: der ganze Wagner war etwas anderes als ein Musiker und sogar eher noch dessen Gegensatz. In ihm haben die Deutschen das außerordentlichste Schauspiel- und Theater-Genie geschenkt bekommen, das es bisher gegeben hat. Man versteht nichts von Wagner, wenn man ihn nicht von dieser Seite aus versteht. Ob Wagner gerade mit diesen Instinkten deutsch war? .. Aber das Gegentheil liegt auf der Hand. Die Deutschen bekommen ihre großen Männer als Ausnahme und Gegensatz selbst zu ihrer Regel: Beethoven, Goethe, Bismarck, Wagner—unsere vier letzten großen Männer—: man kann aus ihnen zusammen auf das Strengste deduziren, was von Grund aus nicht deutsch, undeutsch, antideutsch ist ...
3.
Wagner war so wenig Musiker, daß er alle musikalischen Gesetze und bestimmter geredet, den Stil überhaupt in der Musik geopfert hat, um aus ihr eine Art Rhetorik, ein Mittel des Ausdrucks, der Verstärkung, der Suggestion, des Psychologisch-Pittoresken zu machen. Wagner’s Musik, nicht von der Theater-Optik und -Massivität aus abgeschätzt, sondern als Musik an sich, ist einfach schlechte Musik, Unmusik: ich habe keinen Menschen kennen gelernt, der das nicht wußte. Die Naiven glauben ihm etwas zu Ehren zu sagen, wenn sie dekretiren: Wagner habe den dramatischen Stil der Musik geschaffen. Dieser “dramatische Stil” ist, ohne umschweife geredet, die Stil-losigkeit, Stil-widrigkeit, Stil-Impotenz zum Prinzip gemacht: dramatische Musik, so verstanden, ist nur ein Synonym für die “schlechteste aller möglichen Musiken” ... Man thut Wagner unrecht, wenn man aus ihm einen Musiker machen will.
4.
Die Musik Wagners als solche ist unerträglich: man braucht das Drama, zur Erlösung von dieser Musik. Und dann versteht man mit Einem Mal die Magie, welche noch mit einer gleichsam zerschnittenen und elementarisch gemachten Kunst ausgeübt werden kann! Wagner hat ein beinahe unheimliches Bewußtsein von allem Elementarischen in der Wirkung der Musik: man darf ihn ohne Übertreiben den größten Meister der Hypnotisirung, selbst noch für unser Zeitalter der Hühner und Zauberer, nennen. Er bewegt sich, er sucht, er streicht, er macht Gebärden:—er wird verstanden ... die Weiblein sind bereits kalt ... Wagner rechnet nie als Musiker von irgend einem Musiker-Gewissen aus: er will eine Wirkung, er rechnet aus der Optik des Theaters ... Nichts ist ihm gegensätzlicher als die monologische heimliche Göttlichkeit der Musik Beethovens, das Selbsterklingen der Einsamkeit, die Scham noch im Lautwerden ... Wagner ist unbedenklich, wie Schiller unbedenklich war, wie alle Theatermenschen unbedenklich sind: unter Umständen braucht er den Glauben des Zuhörers, eben eine solche andere Musik zu hören—er macht sie. Es scheint uns, daß er sie macht: wir Unthiere selbst werden betrogen ... Hinterdrein begreifen wir gut genug, daß wir betrogen sind: aber was geht einen Theater-Künstler das “Hinterdrein” an! ... Er hat den Augenblick für sich: Wagner überredet unbedingt. “Es giebt nirgendswo ächten Contrapunkt bei Wagner”—so spricht das Hinterdrein. Aber wozu auch! wir sind im Theater, und es genügt zu glauben, daß es ihn giebt ...
5.
Die Wirkung der Wagnerischen Kunst ist tief, sie ist vor allem schwer: woran liegt das? Zunächst nicht, wie angedeutet, an der Musik: man hielte diese Musik nicht einmal aus, wenn man nicht bereits durch etwas Anderes überwältigt und gleichsam unfrei geworden wäre. Das Andere ist das Wagnerische Pathos, zu dem er sich seine Musik nur hinzuerfunden hat. Es ist die ungeheure Überzeugungskraft dieses Pathos, sein Athemanhalten, sein Nicht-Mehr-loslassenwollen eines extremen Gefühls, es ist die erschreckende Länge dieses Pathos, mit der Wagner über uns siegt und immer siegen wird:—so daß er uns zuletzt noch gar zu seiner Musik überredet ... Ob man mit einem solchen Pathos ein Genie ist? Oder auch nur sein kann? ... Man hat bisweilen unter Genie eines Künstlers seine höchste Freiheit unter dem Gesetz, seine göttliche Leichtigkeit, Leichtfertigkeit im Schwersten verstanden. Dürfte man sagen: “Wagner ist schwer, centnerschwer: folglich—kein Genie?” Aber vielleicht hat man ein Unrecht, die leichten Füße zum Typ des Gottes zu machen.— Eine andere Frage, auf die eine bestimmtere Antwort auf der Hand liegt, ist die: ob Wagner gerade mit einem solchen Pathos deutsch ist? ein Deutscher ist? Nie und nimmermehr! Vielmehr eine Ausnahme aller Ausnahmen ..!
6.
Die Sensibilität Wagners ist nicht deutsch: um so deutscher ist seine Art Geist und Geistigkeit. Ich weiß es sehr gut, warum es deutschen Jünglingen auf eine unvergleichliche Weise wohl bei ihm zu Muthe wurde, inmitten der Wagnerischen Tiefe, Vielheit, Fülle, Willkür, Ungewißheit im Geistigen: damit sind sie bei sich selbst zu Hause! Sie hören mit Entzücken, wie die großen Symbole und Räthsel aus ungeheurer Ferne her mit sanftem Donner laut werden. Sie werden nicht ungehalten, wenn es bisweilen grau, gräßlich und kalt hergeht: sind sie doch sammt und sonders verwandt mit dem schlechten Wetter, dem deutschen Wetter! ... Sie vermissen nicht, was wir Anderen vermissen: Witz, Feuer, Anmuth; die große Logik; die übermüthige Geistigkeit; das halkyonische Glück; den glänzenden Himmel mit seinen Sternbildern und Lichtschaudern ..
7.
Die Sensibilität Wagner’s gehört nicht nach Deutschland: man trifft sie wieder unter den Nächstverwandten Wagner’s, den französischen Romantikern. Die Leidenschaft, so wie sie Wagner versteht, ist jedenfalls das Gegenstück der “Freigeisterei der Leidenschaft”, mit Schiller zu reden, der deutsch-romantischen Sensibilität. Schiller ist ebenso deutsch als Wagner Franzose. Seine Helden, seine Rienzi, Tannhäuser, Lohengrin, Tristan, Parsival—das hat Blut im Leibe, kein Zweifel—, und gewiß kein deutsches Blut! Und wenn sie lieben, diese Helden—werden sie deutsche Mädchen lieben? ... Ich zweifle daran: aber noch mehr bezweifle ich, daß sie gerade Wagnerische Heldinnen lieben würden: was ein armes Volk ist und ein Präparat zu allerlei neurotisch-hypnotisch-erotischen Experimenten Pariser Psychologen! Hat man wohl schon bemerkt, daß keine je ein Kind gebar?— Sie können’s nicht! ...
8.
Man will es heute noch am Wenigsten Wort haben, wie viel Wagner Frankreich verdankt, wie sehr er selbst nach Paris gehört. Der Ehrgeiz großen Stils bei einem Künstler—selbst der ist noch französisch an Wagner ... Und die große Oper! Und der Wettlauf mit Meyerbeer! Und sogar mit Meyerbeerschen Mitteln! Was ist daran deutsch? ... Zuletzt erwägen wir doch das Entscheidende: was charakterisirt die Wagnersche Künstlerschaft? der Histrionismus, das in-Scene-Setzen, die Kunst der étalage, der Wille zur Wirkung um der W[irkung] willen, das Genie des Vortragens, Vorstellens, Nachmachens, Darstellens, Bedeutens, Scheinens: ist das in irgend einem Genre eine deutsche Art Begabung? ... Wir haben an dieser Stelle wir wissen es zu gut! bisher unsere Schwäche gehabt—und wir wollen uns keinen Stolz aus dieser Schwäche zurechtmachen! ... Aber es ist das Genie Frankreichs! ...