Frühjahr 1888 15 [1-120]
15 [24]
Eine Vergleichung des indischen Gesetzbuches mit dem christlichen ist nicht zu umgehen; es giebt kein besseres Mittel, um sich das Unreife und Dilettantische in der ganzen christlichen Tentative zu Gemüthe zu führen.
15 [25]
[vgl.: Frühjahr 1888 14 [132]]
IX
Wenn durch Übung in einer ganzen Reihe von Geschlechtern die Moral gleichsam einmagazinirt worden ist—also die Feinheit, die Vorsicht, die Tapferkeit, die Billigkeit—so strahlt die Gesammtkraft dieser aufgehäuften Tugend selbst noch in die Sphäre aus, wo die Rechtschaffenheit am seltensten, in die geistige Sphäre.
In allem Bewußtwerden drückt sich ein Unbehagen des Organismus aus: es soll etwas Neues versucht werden, es ist nichts genügend zurecht dafür, es giebt Mühsal, Spannung, Überreiz—das alles ist eben Bewußtwerden ... Das Genie sitzt im Instinkt; die Güte ebenfalls. Man handelt nur vollkommen, sofern man instinktiv handelt. Auch moralisch betrachtet, ist alles Denken, das bewußt verläuft, eine bloße Tentative, zumeist das Widerspiel der Moral. Die wissenschaftliche Rechtschaffenheit ist immer ausgehängt, wenn der Denker anfängt zu räsonniren: man mache die Probe, man lege die Weisesten auf die Goldwage, indem man sie Moral reden macht ...
Das läßt sich beweisen, daß alles Denken, das bewußt verläuft, auch einen viel niedrigeren Grad von Moralität darstellen wird, als das Denken desselben, so fern es von seinen Instinkten geführt wird.
Nichts ist seltener unter den Philosophen als intellektuelle Rechtschaffenheit: vielleicht sagen sie das Gegentheil, vielleicht glauben sie es selbst. Aber ihr ganzes Handwerk bringt es mit sich, daß sie nur gewisse Wahrheiten zulassen; sie wissen, was sie beweisen müssen, sie erkennen sich beinahe daran als Philosophen, daß sie über diese “Wahrheiten” einig sind. Da sind z.B. die moralischen Wahrheiten. Aber der Glaube an Moral ist noch kein Beweis von Moralität: es giebt Fälle—und der Fall der Philosophen gehört hierher, wo ein solcher Glaube einfach eine Unmoralität ist.