Frühjahr 1888 15 [1-120]
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Décadence
“Die Erlösung von aller Schuld.”
Man spricht von der “tiefen Ungerechtigkeit” des socialen Pakts: wie als ob die Thatsache, daß dieser unter günstigen, jener unter ungünstigen Verhältnissen geboren wird, von vornherein eine Ungerechtigkeit sei; oder gar schon, daß dieser mit diesen Eigenschaften, jener mit jenen geboren wird. Von Seiten der Aufrichtigsten unter diesen Gegnern der Gesellschaft wird dekretirt: “wir selber sind mit allen unseren schlechten, krankhaften, verbrecherischen Eigenschaften, die wir eingestehen, nur die unvermeidlichen Folgen einer seculären Unterdrückung der Schwachen durch die Starken”; sie schieben ihren Charakter den herrschenden Ständen in’s Gewissen. Und man droht, man zürnt, man verflucht; man wird tugendhaft vor Entrüstung—, man will nicht umsonst ein schlechter Mensch, eine canaille geworden sein ... Diese Attitüde, eine Erfindung unsrer letzten Jahrzehnte, heißt sich, soviel ich höre, auch Pessimismus, und zwar Entrüstungs-Pessimismus. Hier wird der Anspruch gemacht, die Geschichte zu richten, sie ihrer Fatalität zu entkleiden, eine Verantwortlichkeit hinter ihr, Schuldige in ihr zu finden. Denn darum handelt es sich: man braucht Schuldige. Die Schlechtweggekommenen, die décadents jeder Art sind in Revolte über sich und brauchen Opfer, um nicht an sich selbst ihren Vernichtungs-Durst zu löschen (—was an sich vielleicht die Vernunft für sich hätte). Dazu haben sie einen Schein von Recht nöthig, das heißt eine Theorie, auf welche hin sie die Thatsache ihrer Existenz, ihres So-und-so-seins auf irgend einen Sündenbock abwälzen können. Dieser Sündenbock kann Gott sein—es fehlt in Rußland nicht an solchen Atheisten aus ressentiment—oder die gesellschaftliche Ordnung, oder die Erziehung und der Unterricht, oder die Juden, oder die Vornehmen oder überhaupt Gutweggekommene irgend welcher Art. “Es ist ein Verbrechen, unter günstigen Bedingungen geboren zu werden: denn damit hat man die Anderen enterbt, bei Seite gedrückt, zum Laster, selbst zur Arbeit verdammt” ... “Was kann ich dafür, miserabel zu sein! Aber irgendwer muß etwas dafür können, sonst wäre es nicht auszuhalten!” ... Kurz, der Entrüstungs-Pessimismus erfindet Verantwortlichkeiten, um sich ein angenehmes Gefühl zu schaffen—die Rache ... “Süßer als Honig” nennt sie schon der alte Homer. —
2.
Daß eine solche Theorie nicht mehr Verständniß, will sagen Verachtung findet, das macht das Stück Christenthum, das uns Allen noch im Blute steckt: so daß wir tolerant gegen Dinge sind, bloß weil sie von fern etwas christlich riechen ... Die Socialisten appelliren an die christlichen Instinkte, das ist noch ihre feinste Klugheit ... Vom Christenthum her sind wir an den abergläubischen Begriff der “Seele” gewöhnt, an die “unsterbliche Seele”, an die Seelen-Monade, die eigentlich ganz wo anders zu Hause ist und nur zufällig in diese oder jene Umstände, ins “Irdische” gleichsam hineingefallen ist, “Fleisch” geworden ist: doch ohne daß ihr Wesen dadurch berührt, geschweige denn bedingt wäre. Die gesellschaftlichen, verwandtschaftlichen, historischen Verhältnisse sind für die Seele nur Gelegenheiten, Verlegenheiten vielleicht; jedenfalls ist sie nicht deren Werk. Mit dieser Vorstellung ist das Individuum transscendent gemacht; es darf auf sie hin sich eine unsinnige Wichtigkeit beilegen. In der That hat erst das Christenthum das Individuum herausgefordert, sich zum Richter über Alles und Jedes aufzuwerfen, der Größenwahn ist ihm beinahe zur Pflicht gemacht: es hat ja ewige Rechte gegen alles Zeitliche und Bedingte geltend zu machen! Was Staat! Was Gesellschaft! Was historische Gesetze! Was Physiologie! Hier redet ein Jenseits des Werdens, ein Unwandelbares in aller Historie, hier redet etwas unsterbliches, etwas Göttliches, eine Seele! Ein anderer christlicher nicht weniger verrückter Begriff hat sich noch weit tiefer ins Fleisch der Modernität vererbt: der Begriff von der Gleichheit der Seelen vor Gott. In ihm ist das Prototyp aller Theorien der gleichen Rechte gegeben: man hat die Menschheit den Satz von der Gleichheit erst religiös stammeln gelehrt, man hat ihr später eine Moral daraus gemacht: und was Wunder, daß der Mensch damit endet, ihn ernst zu nehmen, ihn praktisch zu nehmen! will sagen politisch, demokratisch, socialistisch, entrüstungs-pessimistisch ...
Überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht worden sind, ist es der Instinkt der Rache gewesen, der da suchte. Dieser Instinkt der Rache wurde in Jahrtausenden dermaßen über die Menschheit Herr, daß die ganze Metaphysik, Psychologie, Geschichtsvorstellung, vor Allem aber die Moral mit ihm abgezeichnet worden ist. So weit auch nur der Mensch gedacht hat, so weit hat er den Bacillus der Rache in die Dinge geschleppt. Er hat Gott selbst damit krank gemacht, er hat das Dasein überhaupt um seine Unschuld gebracht: nämlich dadurch, daß er jedes So-und-So-sein auf Willen, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurückführte. Die ganze Lehre vom Willen, diese verhängnißvollste Fälschung in der bisherigen Psychologie, wurde wesentlich erfunden zum Zweck der Rache. Es war die gesellschaftliche Nützlichkeit der Strafe, die diesem Begriff seine Würde, seine Macht, seine Wahrheit verbürgte. Die Urheber der älteren Psychologie—der Willens-Psychologie—hat man in den Ständen zu suchen, welche das Strafrecht in den Händen hatten, voran in dem der Priester an der Spitze der ältesten Gemeinwesen: sie wollten sich ein Recht schaffen, Rache zu nehmen—oder sie wollten Gott ein Recht zur Rache schaffen. Zu diesem Zwecke wurde der Mensch “frei” gedacht; zu diesem Zwecke mußte jede Handlung als gewollt, mußte der Ursprung jeder Handlung als im Bewußtsein liegend gedacht werden. Allein in diesen Sätzen ist die alte Psychologie conservirt.— Heute, wo Europa in die umgekehrte Bewegung eingetreten scheint, wo wir Halkyonier zumal mit aller Kraft den Schuldbegriff und Strafbegriff aus der Welt wieder zurückzuziehen, herauszunehmen, auszulöschen suchen, wo unser größter Ernst darauf aus ist, die Psychologie, die Moral, die Geschichte, die Natur, die gesellschaftlichen Institutionen und Sanktionen, Gott selbst von diesem Schmutz zu reinigen—in wem müssen wir unsre natürlichsten Antagonisten sehen? Eben in jenen Aposteln der Rache und des Ressentiments, in jenen Entrüstungs-Pessimisten par excellence, welche eine Mission daraus machen, ihren Schmutz unter dem Namen “Entrüstung” zu heiligen ... Wir Anderen, die wir dem Werden seine Unschuld zurückzugewinnen wünschen, möchten die Missionare eines reinlicheren Gedankens sein; daß Niemand dem Menschen seine Eigenschaften gegeben hat, weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch er selbst,—daß Niemand schuld an ihm ist ... Es fehlt ein Wesen, das dafür verantwortlich gemacht werden könnte, daß Jemand überhaupt da ist, daß Jemand so und so ist, daß Jemand unter diesen Umständen, in dieser Umgebung geboren ist.— Es ist ein großes Labsal, daß solch ein Wesen fehlt ... Wir sind nicht das Resultat einer ewigen Absicht, eines Willens, eines Wunsches: mit uns wird nicht der Versuch gemacht, ein “Ideal von Vollkommenheit” oder ein “Ideal von Glück” oder ein “Ideal von Tugend” zu erreichen,—wir sind ebensowenig der Fehlgriff Gottes, vor dem ihm selber angst werden müßte (—mit welchem Gedanken bekanntlich das alte Testament beginnt). Es fehlt jeder Ort, jeder Zweck, jeder Sinn, wohin wir unser Sein, unser So-und-so-sein abwälzen könnten. Vor allem: Niemand könnte es: man kann das Ganze nicht richten, messen, vergleichen oder gar verneinen. Warum nicht?— Aus fünf Gründen, allesammt selbst, bescheidenen Intelligenzen zugänglich: zum Beispiel, weil es nichts giebt außer dem Ganzen.— Und nochmals gesagt, das ist ein großes Labsal, darin liegt die Unschuld alles Daseins.