Herbst 1887 10 [101-206]
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[(225)] Gegen die Reue. Ich liebe diese Art Feigheit gegen die eigene That nicht; man soll sich selbst nicht im Stich lassen, unter dem Ansturz unerwarteter Schande und Bedrängniß. Ein Extremer Stolz ist da eher am Platz. Zuletzt was hilft es! Keine That wird dadurch, daß sie bereut wird, ungethan; ebensowenig dadurch, daß sie “vergeben” oder daß sie “gesühnt” wird. Man müßte Theologe sein, um an eine schuldtilgende Macht zu glauben: wir Immoralisten ziehen es vor, nicht an “Schuld” zu glauben. Wir halten dafür, daß jedwederlei Handlung in der Wurzel werthidentisch ist,—insgleichen, daß Handlungen, welche sich gegen uns wenden, ebendarum immer noch, ökonomisch gerechnet, nützliche, allgemein-wünschbare Handlungen sein können.— Im einzelnen Fall werden wir zugestehen, daß eine That uns leicht hätte erspart bleiben können,—nur die Umstände haben uns zu ihr begünstigt.— Wer von uns hätte nicht, von den Umständen begünstigt, schon die ganze Skala der Verbrechen durchgemacht? ... Man soll deshalb nie sagen: “das und das hättest du nicht thun sollen,” sondern immer nur: “wie seltsam, daß ich das nicht schon hundert Mal gethan habe.”— Zuletzt sind die wenigsten Handlungen typische Handlungen, und wirklich Abbreviaturen einer Person; und in Anbetracht, wie wenig Person die meisten sind, wird selten ein Mensch durch eine einzelne That charakterisirt. That der Umstände, bloß epidermal, bloß reflexmäßig als Auslösung auf einen Reiz erfolgend: bevor die Tiefe unseres Seins davon berührt, darüber befragt worden ist. Ein Zorn, ein Griff, ein Messerstich: was ist daran von “Person!”— Die That bringt häufig eine Art Starrblick und Unfreiheit mit sich: so daß der Thäter durch ihre Erinnerung wie gebannt ist und sich selbst bloß als Zubehör zu ihr noch fühlt. Diese geistige Störung, eine Form von Hypnotisirung, hat man vor allem zu bekämpfen: eine einzelne That, sie sei welche sie sei, darf im Vergleich mit allem, was man that, gleich Null und darf weggerechnet werden, ohne daß die Rechnung falsch würde. Das billige Interesse, welches die Gesellschaft haben kann, unsere ganze Existenz nur in Einer Richtung hin nachzurechnen, wie als ob ihr Sinn sei, eine einzelne That herauszutreiben, sollte den Thäter selbst nicht anstecken: leider geschieht es fast beständig. Das hängt daran, daß jeder That mit ungewöhnlichen Folgen eine geistige Störung folgt: gleichgültig selbst, ob diese Folgen gute oder schlimme sind. Man sehe einen Verliebten an, dem ein Versprechen zu Theil geworden; einen Dichter, dem ein Theater Beifall klatscht: sie unterscheiden sich, was den torpor intellectualis betrifft, in nichts von dem Anarchisten, den man mit einer Haussuchung überfällt.— Es giebt Handlungen die unser unwürdig sind: Handlungen die, als typisch genommen, uns in eine niedrigere Gattung herabdrücken würden. Hier hat man allein diesen Fehler zu vermeiden, daß man sie typisch nimmt. Es giebt die umgekehrte Art Handlungen, derer wir nicht würdig sind: Ausnahmen, aus einer besonderen Fülle von Glück und Gesundheit geboren, unsere höchsten Fluthwellen, die ein Sturm, ein Zufall einmal so hoch trieb: solche Handlungen und “Werke” (—) sind nicht typisch. Man soll einen Künstler nie nach dem Maaße seiner Werke messen.