Herbst 1887 10 [101-206]
10 [176]
(273) Es ist heute in der Gesellschaft eine große Menge von Rücksicht, von Takt und Schonung, von gutwilligem Stehenbleiben vor fremden Rechten, selbst vor fremden Ansprüchen verbreitet; mehr noch gilt ein gewisser wohlwollender Instinkt des menschlichen Werthes überhaupt, welcher sich im Vertrauen und Credit jeder Art zu erkennen giebt; die Achtung vor den Menschen und zwar ganz und gar nicht bloß vor den tugendhaften Menschen—ist vielleicht das Element, welches uns am stärksten von einer christlichen Werthung abtrennt. Wir haben ein gut Theil Ironie, wenn wir überhaupt noch Moralprediger hören; man erniedrigt sich in unsern Augen und wird scherzhaft, falls man Moral predigt.
Diese moralistische Liberalität gehört zu den besten Zeichen unserer Zeit. Finden wir Fälle, wo sie entschieden fehlt, so muthet uns das wie Krankheit an (der Fall Carlyle in England, der Fall Ibsen in Norwegen, der Fall des kathol[ischen] Priesters in ganz Europa) Wenn irgend etwas mit unserer Zeit versöhnt, so ist es das große Quantum Immoralität welches sie sich gestattet, ohne darum von sich geringer zu denken. Im Gegentheil!— Was macht denn die Überlegenheit der Cultur gegen die Unkultur aus? Der Renaissance z.B. gegen das Mittelalter?— Immer nur Eins: das große Quantum zugestandener Immoralität. Daraus folgt, mit Nothwendigkeit, als was alle Höhen der menschlichen Entwicklung sich dem Auge der Moral-Fanatiker darstellen müssen: als non plus ultra der Corruption (—man denke an Platos Urtheil über das Perikleische Athen, an Savonarolas Urtheil über Florenz, an Luthers Urtheil über Rom, an Rousseaus Urtheil über die Gesellschaft Voltaires, an das deutsche Urtheil contra Goethe.)