Herbst 1887 10 [101-206]
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(227) Zuletzt, was habe ich erreicht? Verbergen wir uns dieses wunderlichste Resultat nicht: ich habe der Tugend einen neuen Reiz ertheilt,—sie wirkt als etwas Verbotenes. Sie hat unsere feinste Redlichkeit gegen sich, sie ist eingesalzen in das “cum grano salis” des wissenschaftlichen Gewissensbisses; sie ist altmodisch im Geruch und antikisirend, so daß sie nunmehr endlich die Raffinirten anlockt und neugierig macht;—kurz, sie wirkt als Laster. Erst nachdem wir Alles als Lüge, Schein erkannt haben, haben wir auch die Erlaubniß wieder zu dieser schönsten Falschheit, der der Tugend, erhalten. Es giebt keine Instanz mehr, die uns dieselbe verbieten dürfte: erst indem wir die Tugend als eine Form der Immoralität aufgezeigt haben, ist sie wieder gerechtfertigt,—sie ist eingeordnet und gleichgeordnet in Hinsicht auf ihre Grundbedeutung, sie nimmt Theil an der Grund-Immoralität alles Daseins,—als eine Luxus-form ersten Ranges, die hochnäsigste, theuerste und seltenste Form des Lasters. Wir haben sie entrunzelt und entkuttet, wir haben sie von der Zudringlichkeit der Vielen erlöst, wir haben ihr die blödsinnige Starrheit, das leere Auge, die steife Haartour, die hieratische Muskulatur genommen.