Herbst 1887 10 [101-206]
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(280) Daß es nicht darauf ankommt, ob etwas wahr ist, sondern wie es wirkt—absoluter Mangel an intellekt[ueller] Rechtschaffenheit. Alles ist gut, die Lüge, die Verleumdung, die unverschämteste Zurechtmachung, wenn es dient, jenen Wärmegrad zu erhöhen,—bis man “glaubt” —
Eine förmliche Schule der Mittel der Verführung zu einem Glauben: principielle Verachtung der Sphären, woher der Widerspruch kommen könnte (—der Vernunft, der Philosophie und Weisheit, des Mißtrauens, der Vorsicht); ein unverschämtes Loben und Verherrlichen der Lehre unter beständiger Berufung [darauf], daß Gott es sei, der sie gebe—daß der Apostel nichts bedeute,—daß hier nichts zu kritisiren sei, sondern nur zu glauben, anzunehmen; daß es die außerordentlichste Gnade und Gunst sei, eine solche Erlösungslehre zu empfangen; daß die tiefste Dankbarkeit und Demuth der Zustand sei, in dem man sie zu empfangen habe ...
Es wird beständig spekulirt auf die ressentiments, welche diese Niedrig-Gestellten gegen Alles, was in Ehren ist, empfinden: daß man ihnen diese Lehre als Gegensatz-Lehre gegen die Weisheit der Welt, gegen die Macht der Welt darstellt, das verführt zu ihr. Sie überredet die Ausgestoßenen und Schlechtweggekommenen aller Art; sie verspricht die Seligkeit, den Vorzug, das Privilegium den Unscheinbarsten und Demüthigsten; sie fanatisirt die armen kleinen thörichten Köpfe zu einem unsinnigen Dünkel, wie als ob sie der Sinn und das Salz der Erde wären —
Das Alles, nochmals gesagt, kann man nicht tief genug verachten: wir ersparen uns die Kritik der Lehre; es genügt die Mittel anzusehn, deren sie sich bedient, um zu wissen, womit man es zu thun hat. In der ganzen Geschichte des Geistes giebt es keine frechere und barere Lüge, keine durchdachtere Nichtswürdigkeit als das Christenthum— Aber—sie akkordirte mit der Tugend, sie nahm die ganze Fascinations-Kraft der Tugend schamlos für sich allein in Anspruch ... sie akkordirte mit der Macht des Paradoxen, mit dem Bedürfniß alter Civilisationen nach Pfeffer und Widersinn; sie verblüffte, sie empörte, sie reizte auf zu Verfolgung und zu Mißhandlung, —
Es ist genau dieselbe Art durchdachter Nichtswürdigkeit, mit der die jüdische Priesterschaft ihre Macht festgestellt [hat] und die jüdische Kirche geschaffen worden ist ...
Man soll unterscheiden: 1) jene Wärme der Leidenschaft “Liebe” (auf dem Untergrund einer hitzigen Sinnlichkeit ruhend) 2) das absolut Unvornehme des Christenthums
— die beständige Übertreibung, die Geschwätzigkeit
— den Mangel an kühler Geistigkeit und Ironie (—es kommt kein schlechter Witz vor und damit nicht einmal ein guter)
— das Unmilitärische in allen Instinkten
— das priesterliche Vorurtheil gegen den männlichen Stolz, die Sinnlichkeit, die Wissenschaften und die Künste.