Herbst 1887 10 [101-206]
10 [137]
(249) | Nothwendigkeit einer objectiven Werthsetzung. |
In Hinsicht auf das Ungeheure und Vielfache des Für- und Gegeneinander-arbeitens, wie es das Gesammtleben jedes Organism darstellt, ist dessen bewußte Welt von Gefühlen, Absichten, Werthschätzungen ein kleiner Ausschnitt. Dies Stück Bewußtsein als Zweck, als Warum? für jenes Gesammt-Phänomen von Leben anzusetzen, fehlt uns alles Recht: ersichtlich ist das Bewußtwerden nur ein Mittel mehr in der Entfaltung und Machterweiterung des Lebens. Deshalb ist es eine Naivetät, Lust oder Geistigkeit oder Sittlichkeit oder irgend eine Einzelheit der Sphäre des Bewußtseins als höchsten Werth anzusetzen: und vielleicht gar “die Welt” aus ihnen zu rechtfertigen.— Das ist mein Grundeinwand gegen alle philosophisch-moral[ischen] Kosmo- und Theodiceen, gegen alle Warum’s und höchsten Werthe in der bisherigen Philosophie und Religionsphilosophie. Eine Art der Mittel ist als Zweck mißverstanden worden: das Leben und seine Machtsteigerung wurde umgekehrt zum Mittel erniedrigt.
Wenn wir einen Zweck des Lebens weit genug ansetzen wollten, so dürfte er mit keiner Kategorie des bewußten Lebens zusammenfallen; er muß vielmehr jede noch erklären als Mittel zu sich ...
die “Verneinung des Lebens” als Ziel des Lebens, Ziel der Entwicklung, das Dasein als große Dummheit: eine solche Wahnwitz-Interpretation ist nur die Ausgeburt einer Messung des Lebens mit Faktoren des Bewußtseins (Lust und Unlust, Gut und Böse) Hier werden die Mittel geltend gemacht gegen den Zweck; die “unheiligen,” absurden, vor allem unangenehmen Mittel—wie kann der Zweck etwas taugen, der solche Mittel gebraucht! Aber der Fehler steckt darin, daß wir, statt nach dem Zweck zu suchen, der die Nothwendigkeit solcher Mittel erklärt, von vornherein einen Zweck voraussetzen, welcher solche Mittel gerade ausschließt: d.h. daß wir eine Wünschbarkeit in Bezug auf gewisse Mittel (nämlich angenehme, rationelle u[nd] tugendhafte) zur Norm nehmen, nach der wir erst ansetzen, welcher Gesammtzweck wünschbar ist ...
Der Grundfehler steckt immer darin, daß wir die Bewußtheit, statt sie als Werkzeug und Einzelnheit im Gesammt-Leben, als Maaßstab, als höchsten Werthzustand des Lebens ansetzen: kurz, die fehlerhafte Perspektive des a parte ad totum. Weshalb instinktiv alle Philos[ophen] darauf aus sind, ein Gesammtbewußtsein, ein bewußtes Mitleben und Mitwollen alles dessen, was geschieht, einen “Geist&,#148; “Gott” zu imaginiren. Man muß ihnen aber sagen, daß eben damit das Dasein zum Monstrum werde; daß ein “Gott” und Gesammt-Sensorium schlechterdings etwas wäre, dessentwegen das Dasein verurtheilt werden müßte ... Gerade daß wir das zweck- und mittelsetzende Gesammt-Bewußtsein eliminirt haben: das ist unsere große Erleichterung,—damit hören wir auf, Pessimisten sein zu müssen— Unser größter Vorwurf gegen das Dasein war die Existenz Gottes ...