Herbst 1887 10 [101-206]
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(263) | Moral-Castratismus.— Das Castraten-Ideal. |
1.
Das Gesetz, die gründlich realistische Formulirung gewisser Erhaltungsbedingungen einer Gemeinde, verbietet gewisse Handlungen in einer bestimmten Richtung, nämlich insofern sie gegen die Gemeinde sich wenden: sie verbietet nicht die Gesinnung, aus der diese Handlungen fließen,—denn sie hat dieselben Handlungen in einer anderen Richtung nöthig—nämlich gegen die Feinde der Gemeinschaft. Nun tritt der Moral-Idealist auf und sagt “Gott siehet das Herz an: die Handlung selbst ist noch nichts; man muß die feindliche Gesinnung ausrotten, aus der sie fließt ...” Darüber lacht man in normalen Verhältnissen; nur in jenen Ausnahmefällen, wo eine Gemeinschaft absolut außerhalb der Nöthigung lebt, Krieg für ihre Existenz zu führen, hat man überhaupt das Ohr für solche Dinge. Man läßt eine Gesinnung fahren, deren Nützlichkeit nicht mehr abzusehn ist.
Dies war z.B. beim Auftreten Buddhas der Fall, innerhalb einer sehr friedlichen und selbst geistig übermüdeten Gesellschaft.
Dies war insgleichen bei der ersten Christengemeinde (auch Judengemeinde) der Fall, deren Voraussetzung die absolut unpolitische jüdische Gesellschaft ist. Das Christenthum konnte nur auf dem Boden des Judenthums wachsen, d.h. innerhalb eines Volkes, das politisch schon Verzicht geleistet hatte und eine Art Parasiten-Dasein innerhalb der römischen Ordnung der Dinge lebte. Das Christenthum ist um einen Schritt weiter: man darf sich noch viel mehr “entmannen,”—die Umstände erlauben es.
NB. man treibt die Natur aus der Moral heraus, wenn man sagt “liebet eure Feinde”: denn nun ist die Natur “du sollst deinen Nächsten lieben u[nd] deinen Feind hassen” in dem Gesetz (im Instinkt) sinnlos geworden; nun muß auch die Liebe zu dem Nächsten sich erst neu begründen (als eine Art Liebe zu Gott). Überall Gott hinein gesteckt und die “Nützlichkeit” herausgezogen: überall geleugnet, woher eigentlich alle Moral stammt: die Naturwürdigung, welche eben in der Anerkennung einer Natur-Moral liegt, in Grund und Boden vernichtet ...
Woher kommt der Verführungsreiz eines solchen entmannten Menschheits-Ideals? Warum degoutirt es nicht, wie uns etwa die Vorstellung des Castraten degoutirt? ... Eben hier liegt die Antwort: die Stimme des Castraten degoutirt uns auch nicht, trotz der grausamen Verstümmelung, welche die Bedingung ist: sie ist süßer geworden ... Eben damit, daß der Tugend die “männlichen Glieder” ausgeschnitten sind, ist ein femininischer Stimmklang in die Tugend gebracht, den sie vorher nicht hatte.
Denken wir anderseits an die furchtbare Härte, Gefahr und Unberechenbarkeit, die ein Leben der männlichen Tugenden mit sich bringt—das Leben eines Corsen heute noch oder das der heidnischen Araber (welches bis auf die Einzelheiten dem Leben der Corsen gleich ist: die Lieder könnten von Corsen gedichtet sein)—so begreift man, wie gerade die robusteste Art Mensch von diesem wollüstigen Klang der “Güte,” der “Reinheit” fascinirt und erschüttert wird... Eine Hirtenweise ... ein Idyll... der “gute Mensch”: dergleichen wirkt am stärksten in Zeiten, wo der Gegensatz schädigt (—der Römer hat das idyllische Hirtenstück erfunden—d.h. nöthig gehabt)
2.
Hiermit haben wir aber auch erkannt, in wiefern der “Idealist” (—Ideal-Castrat) auch aus einer ganz bestimmten Wirklichkeit heraus geht und nicht bloß ein Phantast ist ... Er ist gerade zur Erkenntniß gekommen, daß für seine Art Realität eine solche grobe Vorschrift des Verbotes bestimmter Handlungen, in der groben Populär-Manier des Gesetzes, keinen Sinn hat (weil der Instinkt gerade zu diesen Handlungen geschwächt ist, durch langen Mangel an Übung, an Nöthigung zur Übung) Der Castratist formulirt eine Summe von neuen Erhaltungsbedingungen für Menschen einer ganz bestimmten Species: darin ist er Realist. Die Mittel zu seiner Legislatur sind die gleichen, wie für die älteren Legislaturen: der Appell an alle Art Autorität, an “Gott,” die Benutzung des Begriffs “Schuld und Strafe,” d.h. er macht sich den ganzen Zubehör des älteren Ideals zu nutz: nur in einer neuen Ausdeutung, die Strafe z.B. innerlicher gemacht (etwa als Gewissensbiß)
In praxi geht diese Species Mensch zu Grunde, sobald die Ausnahmebedingungen ihrer Existenz aufhören—eine Art Tahiti und Inselglück, wie es das Leben der kleinen Juden in der Provinz war. Ihre einzige natürliche Gegnerschaft ist der Boden, aus dem sie wuchsen: gegen ihn haben sie nöthig zu kämpfen, gegen ihn müssen sie die Offensiv- und Defensiv-Affekte wieder wachsen lassen: ihre Gegner sind die Anhänger des alten Ideals (—diese Species Feindschaft ist großartig durch Paulus im Verhältniß zum jüdischen vertreten, durch Luther im Verhältniß zum priesterlich-asketischen Ideal) Der Buddhismus ist darum die vollkommenste Form des Moral-Castratismus, weil er keine Gegnerschaft hat und von vornherein seine ganze Kraft [auf die] Ausrottung der feindseligen Gefühle richten darf. Der Kampf gegen das ressentiment erscheint fast als erste Aufgabe des Buddhisten: erst damit ist der Frieden der Seele verbürgt. Sich loslösen, aber ohne Rancune: das setzt allerdings eine erstaunlich gemilderte und süß gewordene Menschlichkeit voraus—Güte ...
3.
Die Klugheit des Moral-Castratismus. Wie führt man Krieg gegen die männlichen Affekte und Werthungen? Man hat keine physischen Gewaltmittel, man kann nur einen Krieg der List, der Verzauberung, der Lüge, kurz “des Geistes” führen.
Erstes Recept: man nimmt die Tugend überhaupt für sein Ideal in Anspruch, man negirt das ältere Ideal bis zum Gegensatz zu allem Ideal. Dazu gehört eine Kunst der Verleumdung.
Zweites Recept: man setzt seinen Typus als Werthmaß überhaupt an; man projicirt ihn in die Dinge, hinter die Dinge, hinter das Geschick der Dinge—als Gott
Drittes Recept: man setzt die Gegner seines Ideals als Gegner Gottes an, man erfindet sich das Recht zum großen Pathos, zur Macht, zu fluchen und zu segnen, —
Viertes Recept: man leitet alles Leiden, alles Unheimliche, Furchtbare und Verhängnißvolle des Daseins aus der Gegnerschaft gegen sein Ideal ab:—alles Leiden folgt als Strafe: und selbst bei den Anhängern (—es sei denn, daß es eine Prüfung ist usw.)
Fünftes Recept: man geht so weit, die Natur als Gegensatz zum eignen Ideal zu entgöttern: man betrachtet es als eine große Geduldprobe, als eine Art Martyrium, so lange im Natürlichen auszuhalten, man übt sich auf den dédain der Mienen und Manieren in Hinsicht auf alle “natürlichen Dinge” ein
Sechstes Recept: der Sieg der Widernatur, des idealen Castratismus, der Sieg der Welt des Reinen, Guten, Sündlosen, Seligen wird projicirt in die Zukunft, als Ende, Finale, große Hoffnung, als “Kommen des Reichs Gottes”
— Ich hoffe, man kann über diese Emporschraubung einer kleinen Species zum absoluten Werthmaß der Dinge noch lachen? ...