Herbst 1887 10 [101-206]
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(278) Die Realität, auf der das Christenthum sich aufbauen konnte, war die kleine jüdische Familie der Diaspora, mit ihrer Wärme und Zärtlichkeit, mit ihrer im ganzen römischen Reiche unerhörten und vielleicht unverstandenen Bereitschaft zum Helfen, Einstehen für einander, mit ihrem verborgenen und in Demuth verkleideten Stolz der “Auserwählten,” mit ihrem innerlichsten Neinsagen ohne Neid, zu allem, was obenauf ist und was Glanz und Macht für sich hat. Das als Macht erkannt zu haben, diesen seel[ischen] Zustand als mittheilsam, verführerisch, ansteckend auch für Heiden erkannt zu haben—ist das Genie des Paulus: den Schatz von latenter Energie, von klugem Glücke auszunützen zu einer “jüdischen Kirche freieren Bekenntnisses,” die ganze jüdische Erfahrung und Meisterschaft der Gemeinde-Selbsterhaltung unter der Fremdherrschaft, auch die jüdische propaganda—das errieth er als seine Aufgabe. Was er vorfand, das war eben jene absolut unpolitische und abseits gestellte Art kleiner Leute: ihre Kunst, sich zu behaupten und durchzusetzen, in einer Anzahl Tugenden angezüchtet, welche den einzigen Sinn von Tugend ausdrückten (“Mittel der Erhaltung und Steigerung einer bestimmten Art Mensch”)
Aus der kleinen jüdischen Gemeinde kommt das Princip der Liebe her: es ist eine leidenschaftlichere Seele, die hier unter der Asche von Demuth und Armseligkeit glüht: so war es weder griechisch noch indisch noch gar germanisch. Das Lied zu Ehren der Liebe, welches Paulus gedichtet hat, ist nichts Christliches, sondern ein jüdisches Auflodern der ewigen Flamme, die semitisch ist. Wenn das Christenthum etwas Wesentliches in psychologischer Hinsicht gethan hat, so ist es eine Erhöhung der Temperatur der Seele bei jenen kälteren und vornehmeren Rassen, die damals obenauf waren; es war die Entdeckung, daß das elendeste Leben reich und unschätzbar werden kann durch eine Temperatur-Erhöhung ...
Es versteht sich, daß eine solche Übertragung nicht stattfinden konnte in Hinsicht auf die herrschenden Stände: die Juden und Christen hatten die schlechten Manieren gegen sich,—und was Stärke und Leidenschaft der Seele bei schlechten Manieren ist, das wirkt abstoßend und beinahe Ekel erregend. (—Ich sehe diese schlechten Manieren, wenn ich das neue Testament lese) Man mußte durch Niedrigkeit und Noth mit dem hier redenden Typus des niederen Volks verwandt sein, um das Anziehende zu empfinden ... Es ist eine Probe davon, ob man etwas klassischen Geschmack im Leibe hat, wie man zum neuen Testament steht (vergl. Tacitus): wer davon nicht revoltirt ist, wer dabei nicht ehrlich und gründlich etwas von foeda superstitio empfindet, etwas, wovon man die Hand zurückzieht, wie um nicht sich zu beschmutzen: der weiß nicht, was klassisch ist. Man muß das “Kreuz” empfinden wie Goethe —
[Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Venezianischen Epigrammen, 67:
Vieles kann ich ertragen. Die meisten beschwerlichen
Dinge
Duld’ ich mit ruhigen Mut, wie esein Gott mir gebeut.
Wenige sind mir jedoch wie Gift und Schlange zuwider,
Viere: Rauch des Tabaks, Wanzen und Knoblauch
und †.]