Herbst 1887 10 [101-206]
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(236) Wie ist es möglich, daß Jemand vor sich gerade in Hinsicht auf die moralischen Werthe allein Respekt hat, daß er alles Andere unterordnet und gering nimmt im Vergleich mit gut, böse, Besserung, Heil der Seele usw.? z.B. Amiel. [Vgl. Henri Frédérique Amiel, Fragments d'un Journal intime. Précédés d'une étude par Edmond Scherer. Tome 1. Paris: Sandoz et Thuillier, 1884. Tome 2. Geneva, Bale, Lyon: Georg; Paris: Robert, 1884.] Was bedeutet die Moral-Idiosynkrasie?— ich frage psychologisch, auch physiologisch, z.B. Pascal. Also in Fällen, wo große andere Qualitäten nicht fehlen; auch im Falle Schopenhauers, der ersichtlich das schätzte, was er nicht hatte und haben konnte ...—ist es nicht die Folge einer bloß gewohnheitsmäßigen Moral-Interpretation von thatsächlichen Schmerz- und Unlustzuständen? ist es nicht eine bestimmte Art von Sensibilität, welche die Ursache ihrer vielen Unlustgefühle nicht versteht, aber mit moral[ischen] Hypothesen sich zu erklären glaubt? So daß auch ein gelegentliches Wohlbefinden und Kraftgefühl immer sofort gleich wieder unter der Optik vom “guten Gewissen,” von der Nähe Gottes, vom Bewußtsein der Erlösung überleuchtet erscheint? ... Also der Moral-Idiosynkratiker hat
1) entweder wirklich in der Annäherung an den Tugend-Typus der Gesellschaft seinen eigenen Werth: “der Brave,” “Rechtschaffene,”—ein mittlerer Zustand hoher Achtbarkeit: in allem Können mittelmäßig, aber in allem Wollen honnett, gewissenhaft, fest, geachtet, bewährt
2) oder er glaubt ihn zu haben, weil er alle seine Zustände überhaupt nicht anders zu verstehen glaubt ..., er ist sich unbekannt, er legt sich dergestalt aus.
Moral als das einzige Interpretationsschema, bei dem der Mensch sich aushält ... eine Art Stolz? ...
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[Vgl.: Frühling 1888 15 [118].
(237) Wie dürfte man den Mittelmäßigen ihre Mittelmäßigkeit verleiden! Ich thue, wie man sieht, das Gegentheil: denn jeder Schritt weg von ihr—so lehre ich—führt ins Unmoralische ...