Herbst 1887 10 [101-206]
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(270) | Aesthetica. |
Zur Entstehung des Schönen und des Häßlichen. Was uns instinktiv widersteht, aesthetisch, ist aus allerlängster Erfahrung dem Menschen als schädlich, gefährlich, mißtrauen-verdienend bewiesen: der plötzlich redende aesthetische Instinkt (im Ekel z.B.) enthält ein Urtheil. Insofern steht das Schöne innerhalb der allgemeinen Kategorie der biologischen Werthe des Nützlichen, Wohlthätigen, Lebensteigernden: doch so, daß eine Menge Reize, die ganz von Ferne an nützliche Dinge und Zustände erinnern und anknüpfen, uns das Gefühl des Schönen d.h. der Vermehrung von Machtgefühl geben (—nicht also bloß Dinge, sondern auch die Begleitempfindung[en] solcher Dinge oder ihre Symbole)
Hiermit ist das Schöne und Häßliche als bedingt erkannt; nämlich in Hinsicht auf unsere obersten Erhaltungswerthe. Davon abgesehn ein Schönes und ein Häßliches ansetzen wollen ist sinnlos. Das Schöne existirt so wenig als das Gute, das Wahre. Im Einzelnen handelt es sich wieder um die Erhaltungsbedingung[en] einer bestimmten Art von Mensch: so wird der Heerdenmensch bei anderen Dingen das Werthgefühl des Schönen haben als der Ausnahme- und Über-mensch.
Es ist die Vordergrunds-Optik, welche nur die nächsten Folgen in Betracht zieht, aus der der Werth des Schönen (auch des Guten, auch des Wahren) stammt
Alle Instinkt-Urtheile sind kurzsichtig in Hinsicht auf die Kette der Folgen: sie rathen an, was zunächst zu thun ist. Der Verstand ist wesentlich ein Hemmungsapparat gegen das Sofort-Reagiren auf das Instinkt-Urtheil: er hält auf, er überlegt weiter, er sieht die Folgenkette ferner und länger.
Die Schönheits- und Häßlichkeits-Urtheile sind kurzsichtig—sie haben immer den Verstand gegen sich—: aber im höchsten Grade überredend; sie appelliren an unsere Instinkte, dort, wo sie am schnellsten sich entscheiden und ihr Ja und Nein sagen, bevor noch der Verstand zu Worte kommt ...
Die gewohntesten Schönheits-Bejahungen regen sich gegenseitig auf und an; wo der aesthetische Trieb einmal in Arbeit ist, krystallisirt sich um “das einzelne Schöne” noch eine ganze Fülle anderer und anderswoher stammender Vollkommenheiten. Es ist nicht möglich, objektiv zu bleiben resp. die interpretirende, hinzugebende, ausfüllende dichtende Kraft auszuhängen (—letztere ist jene Verkettung der Schönheits-Bejahungen selber) Der Anblick eines “schönen Weibes” ...
Also: 1) das Schönheits-Urtheil ist kurzsichtig, es sieht nur die nächsten Folgen
2) es überhäuft den Gegenstand, der es erregt, mit einem Zauber, der durch die Association verschiedener Schönheits-Urtheile bedingt ist,—der aber dem Wesen jenes Gegenstandes ganz fremd ist.
Ein Ding als schön empfinden heißt: es nothwendig falsch empfinden ... (—weshalb, beiläufig gesagt, die Liebesheirath die gesellschaftlich unvernünftigste Art der Heirath ist—)