Herbst 1887 10 [101-206]
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Moral als höchste Abwerthung
Entweder ist unsere Welt das Werk und der Ausdruck (der modus) Gottes: dann muß sie höchst vollkommen sein (Schluß Leibnitzens ...)—und man zweifelte nicht, was zur Vollkommenheit gehöre, zu wissen—dann kann das Böse, das Übel nur scheinbar sein (radikaler bei Spinoza die Begriffe gut u[nd] böse) oder muß aus dem höchsten Zweck Gottes abgeleitet sein (—etwa als Folge einer besonderen Gunsterweisung Gottes, der zwischen Gut und Böse zu wählen erlaubt: das Privilegium, kein Automat zu sein; “Freiheit” auf die Gefahr hin, sich zu vergreifen, falsch zu wählen ... z.B. bei Simplicius im Commentar zu Epictet) [Vgl. Vgl. Simplikios, Simplikios' Commentar zu Epiktetos Handbuch [Commentarius]. Aus dem Griechischen in das Deutsche übertragen von K. Enk. Wien: Beck, 1867.]
Oder unsere Welt ist unvollkommen, das Übel und die Schuld sind real, sind determinirt, sind absolut ihrem Wesen inhärent; dann kann sie nicht die wahre Welt sein: dann ist Erkenntniß eben nur der Weg, sie zu verneinen, dann ist sie eine Verirrung, welche als Verirrung erkannt werden kann. Dies die Meinung Schopenhauers auf Kantischen Voraussetzungen. Naiv! Das wäre ja eben nur ein anderes miraculum! Noch desperater Pascal: er begriff daß dann auch die Erkenntniß corrupt, gefälscht sein müsse—daß Offenbarung noth thut, um die Welt auch nur als verneinenswerth zu begreifen ...
(256) Inwiefern der Schopenhauer[ische] Nihilism immer noch die Folge des gleichen Ideals ist, welches den christlichen Theismus geschaffen hat
Der Grad von Sicherheit in Betreff der höchsten Wünschbarkeit, der höchsten Werthe, der höchsten Vollkommenheit war so groß, daß die Philosophen davon wie von einer absoluten Gewißheit a priori ausgiengen: “Gott” an der Spitze als gegebene Wahrheit. “Gott gleich zu werden,” “in Gott aufzugehn”—dies waren Jahrtausende lang die naivsten und überzeugendsten Wünschbarkeiten (—aber eine Sache, die überzeugt, ist deshalb noch nicht wahr: sie ist bloß überzeugend. Anmerkung für Esel)
Man hat verlernt, jener Ansetzung von Ideal auch die Personen-Realität zuzugestehn: man ward atheistisch. Aber hat man eigentlich auf das Ideal verzichtet?— Die letzten Metaphysiker suchen im Grunde immer noch in ihm die eigentliche “Realität,” das “Ding an sich,” im Verhältniß zu dem Alles Andere nur scheinbar ist. Ihr Dogma ist daß, weil unsere Erscheinungswelt so ersichtlich nicht der Ausdruck jenes Ideals ist, sie eben nicht “wahr” ist,—und im Grunde nicht einmal auf jene metaphysische Welt als Ursache zurückführt. Das Unbedingte, sofern es jene höchste Vollkommenheit ist, kann unmöglich den Grund für alles Bedingte abgeben. Schopenhauer, der es anders wollte, hatte nöthig, jenen metaphysischen Grund sich als Gegensatz zum Ideale zu denken, als “bösen blinden Willen”: dergestalt konnte er dann “das Erscheinende” sein, das in der Welt der Erscheinung sich offenbart. Aber selbst damit gab er nicht jenes Absolutum von Ideal auf—er schlich sich durch ... (Kant schien die Hypothese der “intelligiblen Freiheit” nöthig, um das ens perfectum von der Verantwortlichkeit für das So-und-So-sein dieser Welt zu entlasten, kurz um das Böse und das Übel zu erklären: eine skandalöse Logik bei einem Philosophen ...)