Herbst 1887 10 [101-206]
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(226) Man soll die Tugend gegen die Tugendprediger vertheidigen: das sind ihre schlimmsten Feinde. Denn sie lehren die Tugend als ein Ideal für Alle; sie nehmen der Tugend ihren Reiz des Seltenen, des Unnachahmlichen, des Ausnahmsweisen und Undurchschnittlichen,—ihren aristokratischen Zauber. Man soll insgleichen Front machen gegen die verstockten Idealisten, welche eifrig an alle Töpfe klopfen und ihre Genugthuung haben, wenn es hohl klingt: welche Naivetät, Großes und Seltenes zu fordern und seine Abwesenheit mit Ingrimm und Menschenverachtung feststellen!— Es liegt z.B. auf der Hand, daß eine Ehe so viel werth ist als die, welche sie schließen, d.h. daß sie im Großen Ganzen etwas Erbärmliches und Unschickliches sein wird: kein Pfarrer, kein Bürgermeister kann etwas Anderes draus machen.
Die Tugend hat alle Instinkte des Durchschnittsmenschen gegen sich: sie ist unvortheilhaft, unklug, sie isolirt, sie ist der Leidenschaft verwandt und der Vernunft schlecht zugänglich; sie verdirbt den Charakter, den Kopf, den Sinn—immer gemessen mit dem Maaß des Mittelguts von Mensch; sie setzt in Feindschaft gegen die Ordnung, gegen die Lüge, welche in jeder Ordnung, Institution, Wirklichkeit versteckt liegt,—sie ist das schlimmste Laster, gesetzt daß man sie nach der Schädlichkeit ihrer Wirkung auf die Anderen beurtheilt.
— Ich erkenne die Tugend daran, daß sie 1) nicht verlangt, erkannt zu werden 2) daß sie nicht Tugend überall voraussetzt, sondern gerade etwas Anderes 3) daß sie an der Abwesenheit der Tugend nicht leidet, sondern umgekehrt dies als das Distanzverhältniß betrachtet, auf Grund dessen etwas an der Tugend zu ehren ist: sie theilt sich nicht mit 4) daß sie nicht Propaganda macht... 5) daß sie Niemandem erlaubt, den Richter zu machen, weil sie immer eine Tugend für sich ist 6) daß sie gerade alles das thut, was sonst verboten ist: Tugend, wie ich sie verstehe, ist das eigentliche vetitum innerhalb aller Heerden-Legislatur 7) kurz, daß sie Tugend im Renaissancestil ist, virtù, moralinfreie Tugend ...