Herbst 1887 10 [101-206]
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(234) Schopenhauer hat die hohe Intellektualität als Loslösung vom Willen ausgelegt; er hat das Freiwerden von den Moral-Vorurtheilen, welches in der Entfesselung des großen Geistes liegt, die typische Unmoralität des Genies, nicht sehen wollen; er hat künstlich das, was er allein ehrte, den moralischen Werth der “Entselbstung,” auch als Bedingung der geistigsten Thätigkeit, des “Objektiv”-Blickens, angesetzt. “Wahrheit,” auch in der Kunst, tritt hervor nach Abzug des Willens ...
Quer durch alle moral[ische] Idiosynkrasie hindurch sehe ich eine grundverschiedene Werthung: solche absurde Auseinandertrennung von “Genie” und Willens-Welt der Moral und Immoral kenne ich nicht. Der moralische Mensch ist eine niedrigere species als der unmoralische, eine schwächere; ja—er ist der M[oral] nach ein Typus, u[nd] nicht sein eigener Typus; eine Copie, eine gute Copie jedenfalls,—das Maaß seines Werthes liegt außer ihm. Ich schätze den Menschen nach dem Quantum Macht und Fülle seines Willens: nicht nach dessen Schwächung und Auslöschung; ich betrachte eine Philosophie, welche die Verneinung des Willens lehrt, als eine Lehre der Herunterbringung und der Verleumdung ...
— ich schätze die Macht eines Willens darnach, wie viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushält und sich zum Vortheil umzuwandeln weiß; nach diesem Maaße muß es mir fern liegen, dem Dasein seinen bösen und schmerzhaften Charakter zum Vorwurf anzurechnen, sondern [ich] ergreife die Hoffnung, daß es einst böser und schmerzhafter sein wird als bisher ...
Die Spitze des Geistes, die Schopenhauer imaginirte, war, zur Erkenntniß zu kommen, daß Alles keinen Sinn hat, kurz, zu erkennen, was instinktiv der gute Mensch schon thut ... er leugnet, daß es höhere Arten Intellekt geben könne—er nahm seine Einsicht als ein non plus ultra ... Hier ist die Geistigkeit tief unter die Güte geordnet; ihr höchster Werth (als Kunst z.B.) wäre es, die moralische Umkehr anzurathen, vorzubereiten: absolute Herrschaft der Moralwerthe..
neben Schopenhauer will ich Kant charakterisiren (Goethes Stelle über das Radikal-Böse): nichts Griechisches, absolut widerhistorisch (Stelle über die französische Revolution) und Moral-Fanatiker. Auch bei ihm im Hintergrund die Heiligkeit...
ich brauche eine Kritik des Heiligen ...
Hegels Werth “Leidenschaft”
Krämer-Philosophie des Herrn Spencer: vollkommene Abwesenheit eines Ideals, außer dem des mittleren Menschen.
Instinkt-Grundsatz aller Philosophen und Historiker und Psychologen: es muß alles, was werthvoll ist in Mensch, Kunst, Geschichte, Wissenschaft, Religion, Technik bewiesen werden als moralisch-werthvoll, moralisch-bedingt, in Ziel, Mittel und Resultat. Alles verstehen in Hinsicht auf den obersten Werth: z.B. Rousseaus Frage in Betreff der Civilisation “wird durch sie der Mensch besser?”—eine komische Frage, da das Gegentheil auf der Hand liegt und eben das ist was zu Gunsten der Civilisation redet