Herbst 1887 10 [101-206]
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(271) | Aesthetica. |
Es ist die Frage der Kraft (eines Einzelnen oder eines Volkes), ob und wo [das] Urtheil “schön” angesetzt wird. Das Gefühl der Fülle, der aufgestauten Kraft (aus dem es erlaubt ist Vieles muthig und wohlgemuth entgegenzunehmen, vor dem dem Schwächling schaudert)—das Machtgefühl spricht das Urtheil schön noch über Dinge und Zustände aus, welche der Instinkt der Ohnmacht nur etwas Hassenswerth[s] als “häßlich” abschätzen kann. Die Witterung dafür, womit wir ungefähr fertig werden würden, wenn es leibhaft entgegenträte, als Gefahr, Problem, Versuchung,—diese Witterung bestimmt auch noch unser aesthetisches Ja: (“das ist schön” ist eine Bejahung)
Daraus ergiebt sich, in’s Große gerechnet, daß die Vorliebe für fragwürdige und furchtbare Dinge ein Symptom für Stärke ist: während der Geschmack am Hübschen und Zierlichen den Schwachen, den Delikaten zugehört. Die Lust an der Tragödie, Symptome starker Zeitalter und Charaktere: ihr non plus ultra ist vielleicht die div[ina] com[media]. Es sind die heroischen Geister, welche zu sich selbst in der tragischen Grausamkeit Ja sagen: sie sind hart genug, um das Leiden als Lust zu empfinden ... Gesetzt dagegen, daß die Schwachen von einer Kunst Genuß begehren, welche für sie nicht erdacht ist, was werden sie thun, um die Tragödie sich schmackhaft zu machen? Sie werden ihre eigenen Werthgefühle in sie hinein interpretiren: z.B. den “Triumph der sittlichen Weltordnung” oder die Lehre vom “Unwerth des Daseins” oder die Aufforderung zur Resignation (—oder auch halb medizinische, halb moralische Affekt-Ausladungen à la Aristoteles) Endlich: die Kunst des Furchtbaren, insofern sie die Nerven aufregt, kann als stimulans bei den Schwachen und Erschöpften in Schätzung kommen: das ist heute z.B. der Grund für die Schätzung der W[agnerschen] Kunst.
Es ist ein Zeichen von Wohl- und Machtgefühl, wie viel Einer den Dingen ihren furchtbaren, ihren fragwürdigen Charakter zugestehen darf; und ob er überhaupt “Lösungen” am Schluß braucht, —
— diese Art Künstler-Pessimismus ist genau das Gegenstück zum moralisch-religiösen Pessimismus, welcher an der “Verderbniß” des Menschen, am Räthsel des Daseins leidet. Dies will durchaus eine Lösung, wenigstens eine Hoffnung auf Lösung ... Die Leidenden, Verzweifelten, An-sich-Mißtrauischen, die Kranken mit Einem Wort, haben zu allen Zeiten die entzückenden Visionen nöthig gehabt, um es auszuhalten (der Begriff “Seligkeit” ist dieses Ursprungs)
— Ein verwandter Fall: die Künstler der décadence, welche im Grunde nihilistisch zum Leben stehn, flüchten in die Schönheit der Form ... in die ausgewählten Dinge wo die Natur vollkommen ward, wo sie indifferent groß und schön ist ...
— die “Liebe zum Schönen” kann somit etwas Anderes als das Vermögen sein, ein Schönes zu sehn, das Schöne zu schaffen: sie kann gerade der Ausdruck von Unvermögen dazu sein.
— die überwältigenden Künstler, welche einen Consonanz-Ton aus jedem Conflikte erklingen lassen, sind die, welche ihre eigene Mächtigkeit und Selbsterlösung noch den Dingen zu Gute kommen lassen: sie sprechen ihre innerste Erfahrung in der Symbolik jedes Kunstwerkes aus,—ihr Schaffen ist Dankbarkeit für ihr Sein.
Die Tiefe des tragischen Künstlers liegt darin, daß sein aesthetischer Instinkt die ferneren Folgen übersieht, daß er nicht kurzfristig beim Nächsten stehen bleibt, daß er die Ökonomie im Großen bejaht, welche das Furchtbare, Böse, Fragwürdige rechtfertigt und nicht nur ... rechtfertigt.