Herbst 1887 10 [101-206]
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(243) Wie unter dem Druck der asketischen Entselbstungs-Moral gerade die Affekte der Liebe, der Güte, des Mitleids, selbst der Gerechtigkeit, des Großmuths, des Heroism mißverstanden werden mußten: Hauptcapitel.
Es ist der Reichthum an Person, die Fülle in sich, das Überströmen und Abgeben, das instinktive Wohlsein und Jasagen zu sich, was die großen Opfer und die große Liebe macht: es ist die starke und göttliche Selbstigkeit, aus der diese Affekte wachsen, so gewiß wie auch das Herrwerdenwollen, Übergreifen, die innere Sicherheit, ein Recht auf Alles zu haben. Die nach gemeiner Auffassung entgegengesetzten Gesinnungen sind vielmehr Eine Gesinnung; und wenn man nicht fest und wacker in seiner Haut sitzt, so hat man nichts abzugeben, und Hand aus[zu]strecken, und Schutz und Stab [zu] sein ...
Wie hat man diese Instinkte so umdeuten können, daß der Mensch als werthvoll empfindet, was seinem Selbste entgegengeht? wenn er sein Selbst einem andern Selbst preisgiebt!
Oh über die psychologische Erbärmlichkeit und Lügnerei, welche bisher in Kirche und kirchlich angekränkelter Philosophie das große Wort geführt hat!
Wenn der Mensch sündhaft ist, durch und durch, so darf er sich nur hassen. Im Grunde dürfte er auch seine Mitmenschen mit keiner anderen Empfindung behandeln wie sich selbst; Menschenliebe bedarf einer Rechtfertigung,—sie liegt darin, daß Gott sie befohlen hat.— Hieraus folgt, daß alle die natürlichen Instinkte des Menschen (zur Liebe usw.) ihm an sich unerlaubt scheinen und erst, nach ihrer Verleugnung, wieder auf Grund eines Gehorsams gegen Gott wieder zu Recht kommen ... Pascal, der bewunderungswürdige Logiker des Christenthums, gieng so weit! man erwäge sein Verhältniß zu seiner Schwester, p. 162: “sich nicht lieben machen” schien ihm christlich. [Vgl. Jean Marie Guyau, L'irréligion de l'avenir. Paris: F. Alcan, 1887:162f.]