Herbst 1887 10 [101-206]
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(294) Matth. 5, 46 Denn so ihr liebet, die euch lieben, was werdet ihr für Lohn haben? Thun nicht dasselbe auch die Zöllner?
Und so ihr [euch] nur zu euren Brüdern freundlich thut, was thut ihr Sonderliches? Thun nicht die Zöllner auch also?
Zwei Motive: Lohn und Absonderung
Das ganze 6te Cap. des Matthäus handhabt diese schöne Moral: hütet euch, wenn ihr klug seid, vor allem Öffentlichwerden eurer tugendhaften Handlungen. Denn anders habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel.“—dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird’s dir vergelten, öffentlich”
6, 14 Denn so ihr den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben.
Hier spricht aus jedem Wort die tiefe Feindseligkeit gegen die religiöse Praxis der herrschenden Stände
Diese ganze Reduktion auf Heuchelei, auf Geiz (6, 19 “ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden usw. ihr könnet nicht Gott dienen und dem Mammon” 6, 24)
“Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes und nach seiner Gerechtigkeit: so wird euch solches Alles zufallen” (nämlich Nahrung, Kleider, die ganze Nothdurft des Lebens, die ganze Fürsorge): ist einfach Unsinn. “Das Leben in den Tag hinein”—gerade zu als Prüfung Gottes gefördert, als Prüfung des Glaubens (30 “so Gott das Gras auf dem Felde kleidet, sollte er das nicht viel mehr euch thun? Oh ihr Kleingläubigen!”)
Matth. 7, 1 “Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet ... mit welcherlei Maaß ihr messet, wird euch gemessen werden”
Luc. 6, 35 Doch aber liebet eure Feinde; thut wohl und leihet, daß ihr nichts dafür hoffet: so wird euer Lohn groß sein und werdet Kinder des Allerhöchsten sein.
Diese ganze Uneigennützigkeits-Moral ist eine Rancune gegen die Pharisäer. Aber der Jude verräth sich darin, daß sie zuletzt auch noch als profitabler dargestellt wird ...
Das Evangelium an die Armen, die Hungernden, die Weinenden, die Gehaßten, Ausgestoßenen, Schlimm-Beleumdeten
— zur Ermuthigung an die Jünger: Freuet euch alsdann und hüpfet: denn siehe, euer Lohn ist groß im Himmel. Desgleichen thaten ihre Väter den Propheten auch. (welche zügellose Frechheit, diesem armen Jünger-Gesindel anzudeuten, sich gleichen Rangs mit den Propheten fühlen zu dürfen, weil sie gleiches Schicksal haben!—)
Und nun der Fluch auf die Reichen, die Satten, die Heitern, die Gelehrten, die Geehrten! (Immer sind es die Pharisäer: “desgleichen thaten ihre Väter den falschen Propheten auch”)
Es ist eine vollkommene Biedermännerei, deretwegen Niemand vom Himmel zu kommen braucht, Moral predigen z.B. zu den Zöllnern zu sagen “fordert nicht mehr, denn gesetzt ist!” oder zu den Kriegsleuten “thut Niemand Gewalt, noch unrecht”
Diese pfäffische Unduldsamkeit
Marc. 6, 11 “und welche euch nicht aufnehmen, noch hören, da gehet von dannen heraus und schüttelt den Staub ab von euren Füßen, zu einem Zeugniß über sie. Ich sage euch: Wahrlich, es wird Sodom und Gomorra am jüngsten Gerichte erträglicher ergehen, denn solcher Stadt.”
Und nun denke man sich dieses arme Mucker-Gesindel sich durchs Land schleichend, mit solchen Jüngsten-Gerichts-Flüchen in der Tasche
Wer kann dies Buch lesen, ohne die Partei alles dessen zu nehmen, was darin angegriffen wird: z.B. der Pharisäer und Schriftgelehrten
Und diese frechen Versprechungen z.B. Marc. 9, 1 “Wahrlich, ich sage euch, es stehen Etliche hier, die werden den Tod nicht schmecken, bis daß sie sehen das Reich Gottes mit Kraft kommen.”
Das neue Testament wird durch seine “Denns” compromittirt ...
Immer die heilige Juden-Selbstsucht im Hintergrund der Aufopferung und Selbstverleugnung: z.B. Marc. 8, 34:
“Wer mir will nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn (—man beachte die “Denns” im neuen Testament—sie enthalten seine Widerlegung—) wer sein Leben will erhalten, der wird es verlieren; und wer sein Leben verliert um meinet und des Evangelii willen, der wird es behalten.”
Alles ist gefälscht und verdorben:
der Tod als Strafe; das Fleisch; das Irdische; die Erkenntniß; das ewige Leben als Lohn
die sämmtlichen Handlungen der Liebe, Mildthätigkeit und seel[ischer] Delikatesse als Schlauheiten der Auserwählten in Hinsicht auf die überreichlichste Belohnung
die ganze Tugend ist um ihre “Unschuld” gebracht ...
— Die Widerlegung der evangelischen Reden liegt in ihrem “Denn”
“Und wer der Kleinen einen ärgert, die an mich glauben, dem wäre es besser, daß ihm ein Mühlstein an seinen Hals gehängt würde und er in das Meer geworfen würde.”—sagt Jesus Marc. 9, 42.
Ärgert dich dein Auge, so wirf es von dir. Es ist dir besser, daß du einäugig in das Reich Gottes gehest, denn daß du zwei Augen habest und werdest in das höllische Feuer geworfen; da ihr Wurm nicht stirbt und ihr Feuer nicht verlöscht. Marc. 9, 47
— eine Aufforderung zur Castration; wie sich aus der entsprechenden Stelle ergiebt Matt. 5, 28 “wer ein Weib ansiehet, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf von dir. Es ist dir besser, daß eines deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde.” (V. 31 ist er immer noch bei dem Geschlechts-Capitel und der raffinirten Auffassung des Ehebruchs: nämlich die Ehescheidung bereits als Ehebruch ...)
Wenn das Christenthum nur ein kluger Eigennutz ist, so ist es ein noch klügerer Eigennutz, es aus dem Wege zu schaffen —