Frühjahr 1888 14 [101-227]
14 [103]
1.
Ich sehe mit Erstaunen, daß die Wissenschaft sich heute resignirt, auf die scheinbare Welt angewiesen zu sein: eine wahre Welt—sie mag sein, wie sie will, gewiß haben wir kein Organ der Erkenntniß für sie.
Hier dürfte man nun schon fragen: mit welchem Organ der Erkenntniß setzt man auch diesen Gegensatz nur an? ...
Damit daß eine Welt, die unseren Organen zugänglich ist, auch als abhängig von diesen Organen verstanden wird, damit daß wir eine Welt als subjektiv bedingt [verstehen,] damit ist nicht ausgedrückt, daß eine objektive Welt überhaupt möglich [ist]. Wer wehrt uns zu denken, daß die Subjektivität real, essentiell ist?
das “An sich” ist sogar eine widersinnige Conception: eine “Beschaffenheit an sich” ist Unsinn: wir haben den Begriff “Sein,” “Ding” immer nur als Relationsbegriff ...
Das Schlimme ist—daß mit dem alten Gegensatz “scheinbar” und “wahr” sich das correlative Werthurtheil fortgepflanzt [hat]: geringer an Werth und absolut “werthvoll”
die scheinbare Welt gilt uns nicht als eine “werthvolle” Welt; der Schein soll eine Instanz gegen die oberste Werthheit sein. Werthvoll an sich kann nur eine “wahre” Welt sein ...
Erstens: man behauptet, sie existirt
zweitens: man hat eine ganz bestimmte Werthvorstellung von ihr
Vorurtheil der Vorurtheile! Erstens wäre an sich möglich, daß die wahre Beschaffenheit der Dinge dermaßen den Voraussetzungen des Lebens schädlich wäre, entgegengesetzt wäre, daß eben der Schein noth thäte, um leben zu können ... Dies ist ja der Fall in so vielen Lagen: z.B. in der Ehe
Unsere empirische Welt wäre aus den Instinkten der Selbsterhaltung auch in ihren Erkenntnißgrenzen bedingt: wir hielten für wahr, für gut, für werthvoll, was der Erhaltung der Gattung frommt ...
| a. | wir haben keine Kategorien, nach denen wir eine wahre und eine scheinbare Welt scheiden dürften. Es könnte eben bloß eine scheinbare Welt geben, aber nicht nur unsere scheinbare Welt ... |
| b. | die wahre Welt angenommen, so könnte sie immer noch die geringere an Werth für uns sein: gerade das Quantum Illusion möchte in seinem Erhaltungswerth für uns höheren Ranges sein. Es sei denn, daß der Schein an sich ein Verwerfungsurtheil begründete? |
| c. | daß eine Correlation besteht zwischen den Graden der Werthe und den Graden der Realität, so daß die obersten Werthe auch die oberste Realität hätten: ist ein metaphysisches Postulat von der Voraussetzung ausgehend, daß wir die Rangordnung der Werthe kennen: nämlich daß diese Rangordnung eine moralische ist ... Nur in dieser Voraussetzung ist die Wahrheit nothwendig für die Definition alles Höchstwerthigen der “Schein” wäre ein Einwand gegen einen Werth überhaupt |
2.
Es ist von kardinaler Wichtigkeit, daß man die wahre Welt abschafft. Sie ist die große Anzweiflerin und Werthverminderung der Welt, die wir sind: Sie war bisher unser gefährlichstes Attentat auf das Leben
Krieg gegen alle Voraussetzungen, auf welche hin man eine wahre Welt fingirt hat. Zu diesen Voraussetzungen gehört, daß die moralischen Werthe die obersten sind
Die moralische Werthung als oberste wäre widerlegt, wenn sie bewiesen werden könnte als die Folge einer unmoralischen Werthung
: als ein Spezialfall der realen Unmoralität
: sie reduzirte sich damit selbst auf einen Anschein
und als Anschein hätte sie, von sich aus, kein Recht mehr, den Schein zu verurtheilen.
3.
“Der Wille zur Wahrheit” wäre sodann psychologisch zu untersuchen: er ist keine moralische Gewalt, sondern eine Form des Willens zur Macht. Dies wäre damit zu beweisen, daß er sich aller unmoralischen Mittel bedient: der Metaphysik voran —
: die Methodik der Forschung ist erst erreicht, wenn alle moralischen Vorurtheile überwunden sind ... sie stellte einen Sieg über die Moral dar ...
NB. Wir sind heute vor die Prüfung der Behauptung gestellt, daß die moralischen Werthe die obersten Werthe sind.