Frühjahr 1888 14 [101-227]
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Der Wille zur Macht als Leben
Der Mensch sucht nicht die Lust und vermeidet nicht die Unlust: man versteht, welchem berühmten Vorurtheile ich hiermit widerspreche. Lust und Unlust sind bloße Folge, bloße Begleiterscheinung,—was der Mensch will, was jeder kleinste Theil eines lebenden Organismus will, das ist ein plus von Macht. Im Streben danach folgt sowohl Lust als Unlust; aus jenem Willen heraus sucht er nach Widerstand, braucht er etwas, das sich entgegenstellt. Die Unlust, als Hemmung seines Willens zur Macht, ist also ein normales Faktum, das normale Ingredienz jedes organischen Geschehens, der Mensch weicht ihr nicht aus, er hat sie vielmehr fortwährend nöthig: jeder Sieg, jedes Lustgefühl, jedes Geschehen setzt einen überwundenen Widerstand voraus.
Nehmen wir den einfachsten Fall, den der primitiven Ernährung: das Protoplasma streckt seine Pseudopodien aus, um nach etwas zu suchen, was ihm widersteht—nicht aus Hunger, sondern aus Willen zur Macht. Darauf macht es den Versuch, dasselbe zu überwinden, sich anzueignen, sich einzuverleiben:—das, was man “Ernährung” nennt, ist bloß eine Folge-Erscheinung, eine Nutzanwendung jenes ursprünglichen Willens, stärker zu werden
Es ist nicht möglich, den Hunger als primum mobile zu nehmen: ebenso wenig als die Selbsterhaltung: der Hunger als Folge der Unterernährung aufgefaßt, heißt: der Hunger als Folge eines nicht mehr Herr werdenden Willens zur Macht
die Zweiheit als Folge einer zu schwachen Einheit
es handelt sich durchaus nicht um eine Wiederherstellung eines Verlustes,—erst spät, in Folge Arbeitstheilung, nachdem der Wille zur Macht ganz andere Wege zu seiner Befriedigung einschlagen lernt, wird das Aneignungsbedürfniß des Organismus reduzirt auf den Hunger, auf das Wiederersatzbedürfniß des Verlorenen.
Die Unlust hat also so wenig nothwendig eine Verminderung unseres Machtgefühls zur Folge, daß, in durchschnittlichen Fällen, sie gerade als Reiz auf dieses Machtgefühl wirkt,—das Hemmniß ist der Stimulus dieses Willens zur Macht.
Man hat die Unlust verwechselt mit einer Art der Unlust, mit der der Erschöpfung: letztere stellt in der That eine tiefe Verminderung und Herabstimmung des Willens zur Macht, eine meßbare Einbuße an Kraft dar. Das will sagen: Unlust als Reizmittel zur Verstärkung der Macht und Unlust nach einer Vergeudung von Macht; im ersteren Fall ein stimulus, im letzteren die Folge einer übermäßigen Reizung ... Die Unfähigkeit zum Widerstand ist der letzteren Unlust zu eigen: die Herausforderung des Widerstehenden gehört zur ersteren ... Die Lust welche im Zustande der Erschöpfung allein noch empfunden wird, ist das Einschlafen; die Lust im anderen Fall ist der Sieg ...
Die große Verwechslung der Psychologen bestand darin, daß sie diese beiden Lustarten die des Einschlafens und die des Sieges nicht auseinanderhielten
die Erschöpften wollen Ruhe, Gliederausstrecken, Frieden, Stille —
es ist das Glück der nihilistischen Religionen und Philosophien
die Reichen und Lebendigen wollen Sieg, überwundene Gegner, Überströmen des Machtgefühls über weitere Bereiche als bisher:
alle gesunden Funktionen des Organismus haben dies Bedürfniß,—und der ganze Organismus, bis zum Alter der Pubertät, ist ein solcher nach Wachsthum von Machtgefühlen ringender Complex von Systemen - - -