Frühjahr 1888 14 [101-227]
14 [131]
Wissenschaft und Philosophie
Wissenschaftlichkeit: als Dressur oder als Instinkt.
Bei den griechischen Philosophen sehe ich einen Niedergang der Instinkte: sonst hätten sie nicht dermaßen fehlgreifen können, den bewußten Zustand als den werthvolleren anzusetzen
die Intensität des Bewußtseins steht im umgekehrten Verhältniß zur Leichtigkeit und Schnelligkeit der cerebralen Übermittlung.
Dort regierte die umgekehrte Meinung über den Instinkt: was immer das Zeichen geschwächter Instinkte ist.
Wir müssen in der That das vollkommene Leben dort suchen, wo es am wenigsten mehr bewußt wird (d.h. seine Logik, seine Gründe, seine Mittel und Absichten, seine Nützlichkeit sich vorführt)
Die Rückkehr zur Thatsache des bon sens, des bon homme, der “kleinen Leute” aller Art
einmagazinirte Rechtschaffenheit und Klugheit seit Geschlechtern, die sich niemals ihrer Principien bewußt wird und selbst einen kleinen Schauder vor Principien hat
das Verlangen nach einer räsonnirenden Tugend ist nicht räsonnabel ... Ein Philosoph ist mit einem solchen Verlangen compromittirt.
14 [132]
[vgl.: Frühjahr 1888 15 [25]]
Wenn durch Übung in einer langen Geschlechterkette genug Feinheit, Tapferkeit, Vorsicht und Mäßigung aufgesammelt ist, so strahlt die Instinkt-Kraft dieser einverleibten Tugend auch noch ins Geistigste aus—und jenes seltene Phänomen wird sichtbar, die intellektuelle Rechtschaffenheit. Dasselbe ist sehr selten: es fehlt bei den Philosophen.
man kann die Wissenschaftlichkeit oder moralisch ausgedrückt die intellektuelle Rechtschaffenheit eines Denkers, seine Instinkt gewordene Feinheit, Tapferkeit, Vorsicht, Mäßigung, die sich ins Geistigste noch übersetzt, auf eine Goldwage legen: man mache ihn Moral reden ...
und die berühmtesten Philosophen zeigen dann, daß ihre Wissenschaftlichkeit nur erst eine bewußte Sache, ein Ansatz, ein “guter Wille,” eine Mühsal ist—und daß eben im Augenblick, wo ihr Instinkt zu reden beginnt, wo sie moralisiren, es zu Ende [ist] mit der Zucht und Feinheit ihres Gewissens
die Wissenschaftlichkeit, ob bloße Dressur und Außenseite oder Endresultat einer langen Zucht und Moral-Übung:
im ersten Falle vikarirt sie sofort, wenn der Instinkt redet (z.B. der religiöse oder der Pflichtbegriffs-Instinkt)
im anderen Falle steht sie an Stelle dieser Instinkte und läßt sie nicht mehr zu, empfindet sie als Unsauberkeit und Verführungen ...