Frühjahr 1888 14 [101-227]
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Gegenbewegung
Vom Ursprung der Religion
In derselben Weise, in der jetzt noch der ungebildete Mensch daran glaubt, der Zorn sei die Ursache davon, wenn er zürnt, der Geist davon, daß er denkt, die Seele davon, daß er fühlt, kurz so wie auch jetzt noch unbedenklich eine Masse von psychologischen Entitäten angesetzt wird welche Ursachen sein sollen: so hat der Mensch auf einer noch naiveren Stufe eben dieselben Erscheinungen mit Hülfe von psychologischen Personal-Entitäten erklärt. Die Zustände, die ihm fremd, hinreißend, überwältigend schienen, legte er sich als Obsession und Verzauberung unter der Macht einer Person zurecht. So führt der Christ, die heute am meisten naive und zurückgebildete Art Mensch, die Hoffnung, die Ruhe, das Gefühl der “Erlösung” auf ein psychologisches Inspiriren Gottes zurück: bei ihm, als einem wesentlich leidenden und beunruhigten Typus erscheinen billigerweise die Glücks- Erhebungs- und Ruhegefühle als das Fremde, als das der Erklärung Bedürftige. Unter klugen, starken und lebensvollen Rassen erregte am meisten der Epileptische die Überzeugung, daß hier eine fremde Macht im Spiel ist; aber auch jede verwandte Unfreiheit, z.B. die des Begeisterten, des Dichters, des großen Verbrechers, der Passionen wie Liebe und Rache dient zur Erfindung von außermenschlichen Mächten. Man concrescirt einen Zustand in eine Person: und behauptet, dieser Zustand, wenn er an uns auftritt, sei die Wirkung jener Person. Mit anderen Worten: in der psychologischen Gottbildung wird ein Zustand, um Wirkung zu sein, als Ursache personifizirt.
Die psychologische Logik ist die: das Gefühl der Macht, wenn es plötzlich und überwältigend den Menschen überzieht,—und das ist in allen großen Affekten der Fall—erregt ihm einen Zweifel an seiner Person: er wagt sich nicht als Ursache dieses erstaunlichen Gefühls zu denken—und so setzt er eine stärkere Person, eine Gottheit für diesen Fall an.
In summa: der Ursprung der Religion liegt in den extremen Gefühlen der Macht, welche als fremd den Menschen überraschen: und dem Kranken gleich, der ein Glied zu schwer und seltsam fühlt und zum Schluß kommt, daß ein anderer Mensch über ihm liege, legt sich der naive homo religiosus in mehrere Personen auseinander. Die Religion ist ein Fall der “altération de la personnalité.” Eine Art Furcht- und Schreckgefühl vor sich selbst ...
Aber ebenso ein außerordentliches Glücks- und Höhengefühl ...
unter Kranken genügt das Gesundheits-Gefühl, um an Gott, an die Nähe Gottes zu glauben