Frühjahr 1888 14 [101-227]
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(Zum Capitel: Religion als décadence)
Die religiöse Moral
Der Affekt, die große Begierde, die Leidenschaften der Macht, der Liebe, der Rache, des Besitzes—: die Moralisten wollen sie auslöschen, herausreißen, die Seele von ihnen “reinigen”
Die Logik ist: diese Begierden richten oft großes Unheil an,—folglich sind sie böse, verwerflich. Der Mensch muß los von ihnen kommen: eher kann er nicht ein guter Mensch sein ...
Das ist dieselbe Logik wie: “ärgert dich ein Glied, so reiße es aus”. In dem besonderen Fall, wie es jene gefährliche “Unschuld vom Lande”, der Stifter des Christenthums, seinen Jüngern zur Praxis empfahl, im Fall der geschlechtlichen Irritabilität, folgt leider dies nicht nur, daß ein Glied fehlt, sondern daß der Charakter des M[enschen] entmannt ist ... und das Gleiche gilt von dem Moralisten-Wahnsinn, welcher, statt der Bändigung, die Exstirpation der Leidenschaften verlangt. Ihr Schluß ist immer: erst der entmannte Mensch ist der gute Mensch.
Die großen Kraftquellen, jene oft so gefährlich und überwältigend hervorströmenden Wildwasser der Seele, statt ihre Macht in Dienst zu nehmen und zu ökonomisiren, will diese kurzsichtigste und verderblichste Denkweise, die Moral-Denkweise, versiegen machen.