Frühjahr 1888 14 [101-227]
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die Wissenschaft
Capitel I
Ursprung der “wahren Welt”
Die Verirrung der Philosophie ruht darauf, daß man, statt in der Logik und den Vernunftkategorien Mittel zu sehen, zum Zurechtmachen der Welt zu Nützlichkeits-Zwecken (also “principiell”, zu einer nützlichen Fälschung) man in ihnen das Criterium der Wahrheit resp. der Realität zu haben glaubte. Das “Kriterium der Wahrheit” war in der That bloß die biologische Nützlichkeit eines solchen Systems principieller Fälschung: und da eine Gattung Thier nichts Wichtigeres kennt als sich zu erhalten, so dürfte man in der That hier von “Wahrheit” reden. Die Naivetät war nur die, die anthropocentrische Idiosynkrasie als Maß der Dinge, als Richtschnur über “real” und “unreal” zu nehmen: kurz, eine Bedingtheit zu verabsolutiren. Und siehe da, jetzt fiel mit Einem Mal die Welt auseinander in eine wahre Welt und eine “scheinbare”: und genau die Welt, in der der Mensch zu wohnen und sich einzurichten seine Vernunft erfunden hatte, genau dieselbe wurde ihm diskreditirt. Statt die Formen als Handhabe zu benutzen, sich die Welt handlich und berechenbar zu machen, kam der verrückte Scharfsinn der Philosophen dahinter, daß in diesen Kategorien der Begriff jener Welt gegeben ist, dem die andere Welt, die in der man lebt, nicht entspricht ... Die Mittel wurden mißverstanden als Werthmaaß, selbst als Verurtheilung der Absicht ...
Die Absicht war, sich auf eine nützliche Weise zu täuschen: die Mittel dazu, die Erfindung von Formeln und Zeichen, mit deren Hülfe man die verwirrende Vielheit auf ein zweckmäßiges und handliches Schema reduzirte.
Aber wehe! jetzt brachte man eine Moral-Kategorie ins Spiel: kein Wesen will sich täuschen, kein Wesen darf täuschen,—folglich giebt es nur einen Willen zur Wahrheit. Was ist “Wahrheit”?
Der Satz vom Widerspruch gab das Schema: die wahre Welt, zu der man den Weg sucht, kann nicht mit sich in Widerspruch sein, kann nicht wechseln, kann nicht werden, hat keinen Ursprung und kein Ende.
Das ist der größte Irrthum, der begangen worden ist, das eigentliche Verhängniß des Irrthums auf Erden: man glaubte ein Kriterium der Realität in den Vernunftformen zu haben, während man sie hatte, um Herr zu werden über die Realität, um auf eine kluge Weise die Realität mißzuverstehen ...
Und siehe da: jetzt wurde die Welt falsch, und exakt der Eigenschaften wegen, die ihre Realität ausmachen, Wechsel, Werden, Vielheit, Gegensatz, Widerspruch, Krieg.
Und nun war das ganze Verhängniß da:
1) wie kommt man los von der falschen, der bloß scheinbaren Welt? (—es war die wirkliche, die einzige
2) wie wird man selbst möglichst der Gegensatz zu dem Charakter der scheinbaren Welt? (Begriff des vollkommenen Wesens als eines Gegensatzes zu jedem realen Wesen, deutlicher als Widerspruch zum Leben ...
3) die ganze Richtung der Werthe war auf Verleumdung des Lebens aus
4) man schuf eine Verwechslung des Ideal-Dogmatismus mit der Erkenntniß überhaupt: so daß die Gegenpartei immer nun auch die Wissenschaft perhorrescirte
- - - der Weg zur Wissenschaft war dergestalt doppelt versperrt: einmal durch den Glauben an die wahre Welt und dann durch die Gegner dieses Glaubens.
Die Naturwissenschaft, Physiologie war 1) in ihren Objecten verurtheilt 2) um ihre Unschuld gebracht ...
In der wirklichen Welt, wo schlechterdings Alles verkettet und bedingt ist, heißt irgend Etwas verurtheilen und wegdenken, Alles wegdenken und verurtheilen.
Das Wort “das sollte nicht sein”, “das hätte nicht sein sollen” ist eine farce ... Denkt man die Consequenzen aus, so ruinirte man den Quell des Lebens, wenn man das abschaffen wollte, was in irgendeinem Sinne schädlich, zerstörerisch ist. Die Physiologie demonstrirt es ja besser!