Frühjahr 1888 14 [101-227]
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Der Wille zur Macht als Leben
Psychologie des Willens zur Macht.
Lust Unlust
Der Schmerz ist etwas Anderes als die Lust,—ich will sagen, er ist nicht deren Gegentheil. Wenn das Wesen der Lust zutreffend bezeichnet worden ist als ein Plus-Gefühl von Macht (somit als ein Differenz-Gefühl, das die Vergleichung voraussetzt), so ist damit das Wesen der Unlust noch nicht definirt. Die falschen Gegensätze, an die das Volk und folglich die Sprache glaubt, sind immer gefährliche Fußfesseln für den Gang der Wahrheit gewesen. Es giebt sogar Fälle, wo eine Art Lust bedingt ist durch eine gewisse rhythmische Abfolge kleiner Unlust-Reize: damit wird ein sehr schnelles Anwachsen des Machtgefühls, des Lustgefühls erreicht. Dies ist der Fall z.B. beim Kitzel, auch beim geschlechtlichen Kitzel im Akt des coitus: wir sehen dergestalt die Unlust als Ingredienz der Lust thätig. Es scheint, eine kleine Hemmung, die überwunden wird und der sofort wieder eine kleine Hemmung folgt, die wieder überwunden wird—dieses Spiel von Widerstand und Sieg regt jenes Gesammtgefühl von überschüssiger überflüssiger Macht am stärksten an, das das Wesen der Lust ausmacht.— Die Umkehrung, eine Vermehrung der Schmerzempfindung durch kleine eingeschobene Lustreize, fehlt: Lust und Schmerz sind eben nichts Umgekehrtes.— Der Schmerz ist ein intellektueller Vorgang, in dem entschieden ein Urtheil laut wurde,—das Urtheil “schädlich”, in dem sich lange Erfahrung aufsummirt hat. An sich giebt es keinen Schmerz. Es ist nicht die Verwundung, die weh thut; es ist die Erfahrung, von welchen schlimmen Folgen eine Verwundung für den Gesammt-Organismus sein kann, welche in Gestalt jener tiefen Erschütterung redet, die Unlust heißt (bei schädigenden Einflüssen, welche der älteren Menschheit unbekannt geblieben sind, z.B. von Seiten neu combinirter giftiger Chemikalien, fehlt auch die Aussage des Schmerzes,—und wir sind verloren ...) Im Schmerz ist das eigentlich Spezifische immer die lange Erschütterung, das Nachzittern eines schreckenerregenden choc’s in dem cerebralen Heerde des Nervensystems:—man leidet eigentlich nicht an der Ursache des Schmerzes (irgend einer Verletzung zum Beispiel), sondern an der langen Gleichgewichtsstörung, welche in Folge jenes choc’s eintritt. Der Schmerz ist eine Krankheit der cerebralen Nervenheerde—die Lust ist durchaus keine Krankheit ...— Daß der Schmerz die Ursache ist zu Gegenbewegungen, hat zwar den Augenschein und sogar das Philosophen-Vorurtheil für sich; aber in plötzlichen Fällen kommt, wenn man genau beobachtet, die Gegenbewegung ersichtlich früher als die Schmerzempfindung. Es stünde schlimm um mich, wenn ich bei einem Fehltritt zu warten hätte, bis das Faktum an die Glocke des Bewußtseins schlüge und ein Wink, was zu thun ist, zurücktelegraphirt würde ... Vielmehr unterscheide ich so deutlich als möglich, daß erst die Gegenbewegung des Fußes, um den Fall zu verhüten, folgt und dann, in einer meßbaren Zeitdistanz, eine Art schmerzhafter Welle plötzlich im vorderen Kopfe fühlbar wird. Man reagirt also nicht auf den Schmerz. Der Schmerz wird nachher projicirt in die verwundete Stelle:—aber das Wesen dieses Lokal-Schmerzes bleibt trotzdem nicht der Ausdruck der Art der Lokal-Verwundung, es ist ein bloßes Ortszeichen, dessen Stärke und Tonart der Verwundung gemäß ist, welches die Nerven-Centren davon empfangen haben. Daß in Folge jenes choc’s die Muskelkraft des Organismus meßbar heruntergeht, giebt durchaus noch keinen Anhalt dafür, das Wesen des Schmerzes in einer Verminderung des Machtgefühls zu suchen ... Man reagirt, nochmals gesagt, nicht auf den Schmerz: die Unlust ist keine “Ursache” von Handlungen, der Schmerz selbst ist eine Reaktion, die Gegenbewegung ist eine andere und frühere Reaktion,—beide nehmen von verschiedenen Stellen ihren Ausgangspunkt. —