Frühjahr 1888 14 [101-227]
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Der Muth.
1.
Ich unterscheide den Muth vor Personen, den Muth vor Sachen und den Muth vor dem Papier. Letzterer war zum Beispiel der Muth David Straußens. Ich unterscheide nochmals den Muth vor Zeugen und den Muth ohne Zeugen: der Muth eines Christen, eines Gottgläubigen überhaupt kann niemals Muth ohne Zeugen sein—er ist damit allein schon degradirt. Ich unterscheide endlich den Muth aus Temperament und den Muth aus Furcht vor der Furcht: ein Einzelfall der letzteren Species ist der moralische Muth. Hierzu kommt noch der Muth aus Verzweiflung.
Wagner als Verführer.
2.
Wagner hatte diesen Muth. Seine Lage hinsichtlich der Musik war im Grunde verzweifelt. Ihm fehlte Beides, was zum guten Musiker befähigt: Natur und Cultur, die Vorbestimmung für Musik und die Zucht und Schulung zur Musik. Er hatte Muth: er schuf aus diesem Mangel ein Princip,—er erfand sich eine Gattung Musik. Die “dramatische Musik”, wie er sie erfand, ist die Musik, welche er machen konnte ... ihr Begriff sind die Grenzen Wagner’s.
Und man hat ihn mißverstanden— Hat man ihn mißverstanden? ... Fünf Sechstel der modernen Künstler sind in seinem Falle. Wagner ist ihr Retter: fünf Sechstel sind übrigens die “geringste Zahl”. Jedesmal, wo die Natur sich unerbittlich gezeigt hat und wo andrerseits die Cultur ein Zufall, eine Tentative, ein Dilettantismus blieb, wendet sich jetzt der Künstler mit Instinkt, was sage ich? mit Begeisterung an Wagner: “halb zog er ihn, halb sank er hin”, wie der Dichter sagt.
2.
Der Erfolg Wagners ist ein großer Verführer. Setzen wir einmal den Fall, daß dieser Verführer reden lernt, daß er sich in Gestalt eines klugen Freundes und Gewissensraths zu jungen Musikern gesellt, die in der Tiefe ihres Ichs ein kleines Verhängniß tragen—und schon hören wir ihn reden, zutraulich, biedermännisch, von einer engelhaften Toleranz für alle “kleinen Verhängnisse” ...