Frühjahr 1888 14 [101-227]
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die “Besserung”
Moral als décadence
Die allgemeine Täuschung und Täuscherei im Gebiete der sogenannten moralischen Besserung. Wir glauben nicht daran, daß ein Mensch ein Anderer wird, wenn er es nicht schon ist: d.h. wenn er nicht, wie es oft genug vorkommt, eine Vielheit von Personen, mindestens von Ansätzen zu Personen, ist. In diesem Falle erreicht man, daß eine andere Rolle in den Vordergrund tritt, daß “der alte Mensch” zurückgeschoben wird ... Der Anblick ist verändert, nicht das Wesen ... Selbst das ist nicht immer erreicht, daß es die Gewöhnung an ein gewisses Thun aufhebt, den besten Grund dazu nimmt. Wer [aus] fatum und Fähigkeit Verbrecher ist, verlernt nichts, sondern lernt immer hinzu: und eine lange Entbehrung wirkt sogar als tonicum auf sein Talent ... Daß Jemand aufhört, gewisse Handlungen zu thun, ist ein bloßes fatum brutum, das die verschiedenste Deutung zuläßt. Für die Gesellschaft freilich hat gerade das allein ein Interesse, daß Jemand gewisse Handlungen nicht mehr thut: sie nimmt ihn zu diesem Zwecke aus den Bedingungen heraus, wo er gewisse Handlungen thun kann: das ist jedenfalls weiser als das Unmögliche versuchen, nämlich die Fatalität seines So-und-So-seins zu brechen.
Die Kirche—und sie hat nichts gethan als die antike Philosophie hierin abzulösen und zu beerben—, von einem anderen Werthmaaße ausgehend und eine “Seele”, das “Heil” einer Seele retten wollend, glaubt einmal an die sühnende Kraft der Strafe und sodann an die auslöschende Kraft der Vergebung: beides sind Täuschungen des religiösen Vorurtheils—die Strafe sühnt nicht, die Vergebung löscht nicht aus, Gethanes wird nicht ungethan gemacht. Damit daß Jemand Etwas vergißt, ist bei weitem nicht erreicht, daß Etwas nicht mehr ist ... Eine That zieht ihre Consequenzen, im Menschen und außer dem Menschen, gleichgültig ob sie als bestraft, “gesühnt”, “vergeben” oder “ausgelöscht” gilt, gleichgültig ob die Kirche inzwischen ihren Thäter selbst zu einem Heiligen avancirt hat. Die Kirche glaubt an Dinge die es nicht giebt, an “Seelen”; sie glaubt an Wirkungen, die es nicht giebt, an göttliche Wirkungen; sie glaubt an Zustände, die es nicht giebt, an Sünde, an Erlösung, an das Heil der Seele; sie bleibt überall bei der Oberfläche stehen, bei Zeichen, Gebärden, Worten, Emblemen denen sie eine arbiträre Auslegung giebt: sie hat eine zu Ende gedachte Methodik der psychologischen Falschmünzerei.