Frühjahr 1888 14 [101-227]
14 [168]
Die wahre und die scheinbare Welt
Entwurf des ersten Capitels
A.
Die Verführungen, die von diesem Begriff ausgehen, sind drei[erlei] Art:
eine unbekannte Welt:—wir sind Abenteurer, neugierig,—das Bekannte scheint uns müde zu machen (—die Gefahr des Begriffs liegt darin, uns “diese” Welt als bekannt zu insinuiren ...
eine andere Welt, wo es anders ist:—es rechnet Etwas in uns nach, unsere stille Ergebung, unser Schweigen verliert dabei ihren Werth,—vielleicht wird Alles gut, wir haben nicht umsonst gehofft ... die Welt, wo es anders, wo wir selbst—wer weiß? anders sind ...
eine wahre Welt:—das ist der wunderlichste Streich und Angriff, der auf uns gemacht wird; es ist so Vieles an das Wort “wahr” ankrustirt, unwillkürlich machen wir’s auch der “Wahren Welt” zum Geschenk: die wahre Welt muß auch eine wahrhaftige sein, eine solche, die uns nicht betrügt, nicht zu Narren hat: an sie glauben ist beinahe glauben müssen (—aus Anstand, wie es unter zutrauenswürdigen Wesen geschieht—)
der Begriff die “unbekannte Welt” insinuirt uns diese Welt als “bekannt” (—als langweilig—)
der Begriff die “andere Welt” insinuirt, als ob die Welt anders sein könnte—hebt die Nothwendigkeit und das Faktum auf (—unnütz, sich zu ergeben, sich anzupassen—)
der Begriff die “wahre Welt” insinuirt diese Welt als eine unwahrhaftige, betrügerische, unredliche, unächte, unwesentliche—und folglich auch nicht unserem Nutzen zugethane Welt (—unrathsam, sich ihr anzupassen, besser: ihr widerstreben)
wir entziehen uns also in dreierlei Weise dieser Welt:
mit unserer Neugierde, wie als ob der interessantere Theil wo anders wäre
: mit unserer Ergebung, wie als ob es nicht nöthig sei, sich zu ergeben,—wie als ob diese Welt keine Nothwendigkeit letzten Ranges sei
: mit unserer Sympathie und Achtung: wie als ob diese Welt sie nicht verdiente, als unlauter, als gegen uns nicht redlich ...
In summa: wir sind auf eine dreifache Weise revoltirt: wir haben ein x zur Kritik der “bekannten Welt” gemacht.
[B.]
Erster Schritt der Besonnenheit: zu begreifen, in wiefern wir verführt sind —
nämlich es könnte an sich exakt umgekehrt sein.
| a) | die unbekannte Welt könnte derartig beschaffen sein, um uns Lust zu machen zu dieser Welt,—als eine vielleicht stupide und geringere Form des Daseins |
| b) | die andere Welt, geschweige daß sie unseren Wünschen, die hier keinen Austrag fänden, Rechnung trüge, könnte mit unter der Masse dessen sein, was uns diese Welt möglich macht: sie kennen lernen wäre ein Mittel, uns zufrieden zu machen |
| 3) | die wahre Welt: aber wer sagt uns eigentlich, daß die scheinbare Welt weniger Werth sein muß als die wahre? Widerspricht nicht unser Instinkt diesem Urtheile? Schafft sich nicht ewig der Mensch eine fingirte Welt, weil er eine bessere Welt haben will als die Realität? ... |
Vor allem: wie kommen wir darauf, daß nicht unsere Welt die wahre ist? ... zunächst könnte doch die andere Welt die “scheinbare” sein ... in der That haben sich die Griechen z.B. ein Schattenreich, eine Scheinexistenz neben der wahren Existenz gedacht— Und endlich: was giebt uns ein Recht, gleichsam Grade der Realität anzusetzen? das ist etwas Anderes als eine unbekannte Welt, das ist bereits etwas-wissen-wollen von der unbekannten.
NB. Die “andere”, die unbekannte Welt—gut! aber sagen “wahre Welt” das heißt “etwas wissen von ihr”—das ist der Gegensatz zur Annahme einer x-Welt ...
In summa: die Welt x könnte langweiliger, unmenschlicher und unwürdiger in jedem Sinne sein als diese Welt.
Es stünde anders, wenn behauptet würde, es gäbe x Welten, d.h. jede mögliche Welt noch außer dieser. Aber das ist nie behauptet worden ...
| Die “wahre” Welt | = die wahrhaftige, die uns nicht belügt, die ehrlich ist |
| = die rechte, auf die allein es ankommt | |
| = die ächte, im Gegensatz zu etwas Nachgemachtem und Gefälschtem |
C.
Problem: warum die Vorstellung von der anderen Welt immer zum Nachtheil, resp. zur Kritik dieser Welt ausgefallen ist,—worauf das weist? —
Nämlich: ein Volk, das auf sich stolz ist, das im Aufgang des Lebens ist, denkt das Anders-sein immer als Niedriger-, Werthloser-sein; es betrachtet die fremde, die unbekannte Welt als seinen Feind, als seinen Gegensatz, es fühlt sich ohne Neugierde, in voller Ablehnung gegen das Fremde ...
ein Volk würde nicht zugeben, daß ein anderes Volk das “wahre Volk” wäre ...
schon daß ein solches Unterscheiden möglich ist—daß man diese Welt für die “scheinbare” und jene für die “wahre” nimmt, ist symptomatisch
| Die Entstehungsheerde der Vorstellung: “andere Welt” |
| der Philosoph, der eine Vernunft-Welt erfindet, wo die Vernunft und die logischen Funktionen adaequat sind:—hierher stammt die “wahre” Welt |
| der religiöse Mensch, der eine “göttliche Welt” [erfindet]—hierher stammt die “entnatürlichte, widernatürliche” Welt |
| der moralische Mensch, der eine “freie Welt” fingirt—hierher stammt die “gute, vollkommene, gerechte, heilige,” Welt. |
| Das Gemeinsame der drei Entstehungsheerde .. |
| der psychologische Fehlgriff ... die physiologischen Verwechslungen |
“die andere Welt”, wie sie thatsächlich in der Geschichte erscheint, mit welchen Prädikaten,—abgezeichnet mit den Stigmaten
| des philosophischen | ü | |
| des religiösen | ý | Vorurtheils |
| des moralischen | þ |
die andere Welt, wie sie aus diesen Thatsachen erhellt, als ein Synonym des Nicht-seins, des Nicht-lebens, des Nicht-leben-wollens ...
Gesammteinsicht: der Instinkt der Lebens-Müdigkeit und nicht der des Lebens hat die andere Welt geschaffen.
Consequenz: Philosophie, Religion und Moral
sind Symptome der décadence.
2tes Capitel
Historischer Nachweis, daß Religion, Moral und Philosophie décadence-Formen der Menschheit sind.
3tes Capitel
[vgl.: Götzen-Dämmerung, Die “Vernunft” in der Philosophie, 6]
1. die Gründe, darauf hin “diese” Welt als “scheinbar” bezeichnet worden ist, begründen vielmehr ihre Realität:—eine andere Art Realität ist absolut unnachweisbar.
2. die Kennzeichen, welche man dem “wahren Sein” der Dinge gegeben hat, sind die Kennzeichen des Nicht-seins,—man hat die “wahre Welt” aus dem Widerspruch zur “wirklichen Welt” aufgebaut: eine “scheinbare Welt” in der That, eine solche, die eine optisch-moralische Täuschung ist
3. In summa: von einer andren Welt als dieser zu fabeln hat gar keinen Sinn,—vorausgesetzt, daß nicht ein Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in uns mächtig ist: im letzteren Falle rächen wir uns am Leben mit der Phantasmagorie eines “besseren Lebens” ...
4. Die Welt scheiden in eine “wahre” und eine “scheinbare” ist eine Suggestion der décadence:—den Schein höher zu schätzen als die Realität, wie es der Künstler thut, ist kein Einwand dagegen. Denn der Schein bedeutet hier nur diese Realität noch einmal in der Auswahl, Verstärkung, Correktur ... Oder giebt es pessimistische Künstler?— Ist der tragische Künstler Pessimist? ...