Frühjahr 1888 14 [101-227]
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Liebe
Will man den erstaunlichsten Beweis dafür, wie weit die Transfigurationskraft des Rausches geht? Die “Liebe” ist dieser Beweis, das, was Liebe heißt, in allen Sprachen und Stummheiten der Welt. Der Rausch wird hier mit der Realität in einer Weise fertig, daß im Bewußtsein des Liebenden die Ursache ausgelöscht und etwas Andres sich an ihrer Stelle zu finden scheint—ein Zittern und Aufglänzen aller Zauberspiegel der Circe ... Hier macht Mensch und Thier keinen Unterschied; noch weniger, Geist, Güte, Rechtschaffenheit ... Man wird fein genarrt, wenn man fein ist, man wird grob genarrt, wenn man grob ist: aber die Liebe, und selbst die Liebe zu Gott, die Heiligen-Liebe “erlöster Seelen,” bleibt in der Wurzel Eins: als ein Fieber, das Gründe [hat], sich zu transfiguriren, ein Rausch, der gut thut, über sich zu lügen ... Und jedenfalls lügt man gut, wenn man liebt, vor sich und über sich: man scheint sich transfigurirt, stärker, reicher, vollkommener, man ist vollkommener ... Wir finden hier die Kunst als organische Funktion: wir finden sie eingelegt in den engelhaftesten Instinkt des Lebens: wir finden sie als größtes Stimulans des Lebens,—Kunst somit, sublim zweckmäßig auch noch darin, daß sie lügt ... Aber wir würden irren, bei ihrer Kraft zu lügen stehen zu bleiben: sie thut mehr als bloß imaginiren, sie verschiebt selbst die Werthe. Und nicht nur daß sie das Gefühl der Werthe verschiebt ... Der Liebende ist mehr werth, ist stärker. Bei den Thieren treibt dieser Zustand neue Stoffe, Pigmente, Farben und Formen heraus: vor allem neue Bewegungen, neue Rythmen, neue Locktöne und Verführungen. Beim Menschen ist es nicht anders. Sein Gesammthaushalt ist reicher als je, mächtiger ganzer als im Nichtliebenden. Der Liebende wird Verschwender: er ist reich genug dazu. Er wagt jetzt, wird Abenteurer, wird ein Esel an Großmuth und Unschuld; er glaubt wieder an Gott, er glaubt an die Tugend weil er an die Liebe glaubt: und andrerseits wachsen diesem Idioten des Glücks Flügel und neue Fähigkeiten und selbst zur Kunst thut sich ihm die Thüre auf. Rechnen wir aus der Lyrik in Ton und Wort die Suggestion jenes intestinalen Fiebers ab: was bleibt von der Lyrik und Musik übrig? ... L’art pour l’art vielleicht: das virtuose Gequak kaltgestellter Frösche, die in ihrem Sumpfe desperiren ... Den ganzen Rest schuf die Liebe ...