Frühjahr 1888 14 [101-227]
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Theorie und Praxis
Verhängnißvolle Unterscheidung, wie als ob es einen eigenen Erkenntnißtrieb gäbe, der, ohne Rücksicht auf Fragen des Nutzens und Schadens, blindlings auf die Wahrheit los gienge: und dann, davon abgetrennt, die ganze Welt der praktischen Interessen ...
Dagegen suche ich zu zeigen, welche Instinkte hinter all diesen reinen Theoretikern thätig gewesen sind,—wie sie allesammt fatalistisch im Bann ihrer Instinkte auf Etwas losgiengen, was für sie “Wahrheit” war, für sie und nur für sie. Der Kampf der Systeme, sammt dem der erkenntnißtheoretischen Skrupel, ist ein Kampf ganz bestimmter Instinkte (Formen der Vitalität, des Niedergangs, der Stände, der Rassen usw.)
Der sogenannte Erkenntnißtrieb ist zurückzuführen auf einen Aneignungs- und Überwältigungstrieb: diesem Triebe folgend haben sich die Sinne, das Gedächtniß, die Instinkte usw. entwickelt ...
— die möglichst schnelle Reduktion der Phänomene, die Oekonomie, die Accumulation des erworbenen Schatzes an Erkenntniß (d.h. angeeigneter und handlich gemachter Welt
Die Moral ist deshalb eine so curiose Wissenschaft, weil sie im höchsten Grade praktisch ist: so daß die reine Erkenntnißposition, die wissenschaftliche Rechtschaffenheit sofort preisgegeben wird, sobald die Moral ihre Antworten fordert
Die Moral sagt: ich brauche manche Antworten,—Gründe, Argumente. Scrupel mögen hinterdrein kommen, oder auch nicht —
“Wie soll gehandelt werden?”
Denkt man nun nach, daß man mit einem souverän entwickelten Typus zu thun hat, von dem seit unzähligen Jahrtausenden “gehandelt” worden ist und alles Instinkt, Zweckmäßigkeit, Automatismus, Fatalität geworden ist, so kommt Einem die Dringlichkeit dieser Moral-Frage sogar ganz komisch vor.
“Wie soll gehandelt werden?”— Moral war immer ein Mißverständniß: thatsächlich wollte eine Art, die ein Fatum, so und so zu handeln, im Leibe hatte, sich rechtfertigen, indem sie ihre Norm als Universalnorm aufdekretiren wollte ...
“Wie soll gehandelt werden?” ist keine Ursache, sondern eine Wirkung. Die Moral folgt, das Ideal kommt am Ende.
— Andrerseits verräth das Auftreten der moralischen Skrupel, anders ausgedrückt: das Bewußtwerden der Werthe, nach denen man handelt, eine gewisse Krankhaftigkeit; starke Zeiten und Völker reflektiren nicht über ihr Recht, über Prinzipien zu handeln, über Instinkt und Vernunft —
das Bewußtwerden ist ein Zeichen davon, daß die eigentliche Moralität, d.h. Instinkt-Gewißheit des Handelns, zum Teufel geht ...
Die Moralisten sind, wie jedes Mal, daß eine neue Bewußtseins-Welt geschaffen wird, Zeichen einer Schädigung, Verarmung, Desorganisation —
die Tief-Instinktiven haben eine Scheu vor dem Logisiren der Pflichten: unter ihnen findet man pyrrhonistische Gegner der Dialektik und der Erkennbarkeit überhaupt ... Eine Tugend wird mit “um” widerlegt ...
Thesis: das Auftreten der Moralisten gehört in die Zeiten, wo es zu Ende geht mit der Moralität
Thesis: der Moralist ist ein Auflöser der moralischen Instinkte, so sehr er deren Wiederhersteller zu sein glaubt
Thesis: das, was den Moralisten thatsächlich führt, sind nicht moralische Instinkte, sondern die Instinkte der décadence, übersetzt in die Formeln der Moral: er empfindet das Unsicherwerden der Instinkte als Corruption: thatsächlich — — —
Thesis: die Instinkte der décadence, die durch die Moralisten über die Instinkt-Moral starker Rassen und Zeiten Herr werden wollen, sind
| 1) | die Instinkte der Schwachen und Schlechtweggekommenen |
| 2) | die Instinkte der Ausnahmen, der Solitären, der Ausgelösten, des abortus im Hohen und Geringen |
| 3) | die Instinkte der Habituell-Leidenden, welche eine noble Auslegung ihres Zustandes brauchen und deshalb so wenig als möglich Physiologen sein dürfen |
Moral als décadence