Frühjahr 1888 14 [101-227]
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Von der christlichen Praxis.
Der Mensch kannte sich nicht physiologisch, die ganze Kette der Jahrtausende entlang: er kennt sich auch heute noch nicht. Zu wissen z.B., daß man ein Nervensystem habe (—aber keine “Seele”) bleibt immer noch das Vorrecht der Unterrichtetsten. Aber der Mensch beargwöhnt sich nicht, hier nicht zu wissen;—man muß sehr human sein, um zu sagen “ich weiß das nicht”, um sich Ignoranzen zu gönnen ... gesetzt, er leidet oder er ist in guter Laune, so zweifelt er nicht, den Grund dafür zu finden, wenn er nur sucht. Also sucht er ihn ... In Wahrheit kann er den Grund nicht finden, weil er nicht einmal argwöhnt, wo er zu suchen hätte ... Was geschieht? ... Er nimmt eine Folge seines Zustandes als dessen Ursache
z.B. ein Werk, in guter Laune unternommen (im Grunde unternommen, weil schon die gute Laune Muth dazu gab) geräth: ecco, das Werk ist der Grund, zur guten Laune ...
Thatsächlich war wiederum das Gelingen bedingt durch dasselbe, was die gute Laune bedingte,—durch die glückliche Coordination der physiologischen Kräfte und Systeme
Er befindet sich schlecht: und folglich wird er mit einer Sorge, einem Skrupel, einer Selbst-Kritik nicht fertig ... In Wahrheit glaubt der Mensch, sein schlechter Zustand sei die Folge seines Skrupels, seiner “Sünde”, seiner “Selbstkritik” ...
Aber der Zustand der Wiederherstellung, oft nach einer tiefen Erschöpfung und Prostration, kehrt zurück. “Wie ist das möglich, daß ich so frei, so gelöst bin? Das ist ein Wunder, das kann nur Gott mir gethan haben” Schluß: “er hat mir meine Sünde vergeben” ...
Daraus ergiebt sich eine Praktik: um Sündengefühle anzuregen, um Zerknirschungen vorzubereiten, hat man den Körper in einen krankhaften und nervösen Zustand zu bringen. Die Methodik dafür ist bekannt. Wie billig, argwöhnt man nicht, die causale Logik der Thatsachen—man hat eine religiöse Deutung für die Kasteiung des Fleisches, sie erscheint als Zweck an sich, während sie sich nur als Mittel ergiebt, um jene krankhafte Indigestion der Reue möglich zu machen (die “Idée fixe” der Sünde, die Hypnotisirung der Henne durch den Strich “Sünde”)
Die Mißhandlung des Leibes erzeugt den Boden für die Reihe der “Schuldgefühle” ... d.h. ein allgemeines Leiden, das erklärt sein wird ...
Andrerseits ergiebt sich ebenso die Methodik der “Erlösung”: man hat jede Ausschweifung des Gefühls durch Gebete, Bewegungen, Gebärden, Schwüre herausgefordert,—die Erschöpfung folgt, oft jäh, oft unter epileptischer Form. Und, hinter dem Zustand tiefer Somnolenz kommt der Schein der Genesung—religiös geredet: “Erlösung”