Frühjahr 1888 14 [101-227]
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Die Gegenbewegungen: die Kunst.
Es sind die Ausnahme-Zustände, die den Künstler bedingen: alle die mit krankhaften Erscheinungen tief verwandt und verwachsen sind: so daß es nicht möglich scheint, Künstler zu sein und nicht krank zu sein.
Die physiologischen Zustände, welche im Künstler gleichsam zur “Person” gezüchtet sind, die an sich in irgend welchem Grade dem Menschen überhaupt anhaften:
1. der Rausch: das erhöhte Machtgefühl; die innere Nöthigung, aus den Dingen einen Reflex der eigenen Fülle und Vollkommenheit zu machen —
2. die extreme Schärfe gewisser Sinne: so daß sie eine ganz andere Zeichensprache verstehen—und schaffen ...— dieselbe, die mit manchen Nervenkrankheiten verbunden erscheint—die extreme Beweglichkeit, aus der eine extreme Mittheilsamkeit wird; das Redenwollen alles dessen, was Zeichen zu geben weiß ... ein Bedürfniß, sich gleichsam loszuwerden durch Zeichen und Gebärden; Fähigkeit von sich durch hundert Sprachmittel zu reden ... ein explosiver Zustand—man muß sich diesen Zustand zuerst als Zwang und Drang denken, durch alle Art Muskelarbeit und Beweglichkeit die Exuberanz der inneren Spannung loszuwerden: sodann als unfreiwillige Coordination dieser Bewegung zu den inneren Vorgängen (Bildern, Gedanken, Begierden)—als eine Art Automatismus des ganzen Muskelsystems unter dem Impuls von Innen wirkender starker Reize—Unfähigkeit, die Reaktion zu verhindern: der Hemmungsapparat gleichsam ausgehängt. Jede innere Bewegung (Gefühl, Gedanke, Affekt) ist begleitet von Vaskular-Veränderungen und folglich von Veränderungen der Farbe, der Temperatur, der Sekretion: die suggestive Kraft der Musik, ihre “suggestion mentale”;
3. das Nachmachen-Müssen: eine extreme Irritabilität, bei der sich ein gegebenes Vorbild contagiös mittheilt,—ein Zustand wird nach Zeichen schon errathen und dargestellt ... Ein Bild, innerlich auftauchend, wirkt schon als Bewegung der Glieder ... eine gewisse Willens-Aushängung ... (Schopenhauer!!!!)
Eine Art Taubsein, Blindsein nach außen hin,—das Reich der zugelassenen Reize ist scharf umgrenzt —
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Dies unterscheidet den Künstler vom Laien (dem künstlerisch-Empfänglichen): letzterer hat im Aufnehmen seinen Höhepunkt von Reizbarkeit; ersterer im Geben—dergestalt, daß ein Antagonismus dieser beiden Begabungen nicht nur natürlich, sondern wünschenswerth ist. Jeder dieser Zustände hat eine umgekehrte Optik,—vom Künstler verlangen, daß er sich die Optik des Zuhörers (Kritikers,—) einübe, heißt verlangen, daß er sich und seine spezifische Kraft verarme ... Es ist hier wie bei der Differenz der Geschlechter: man soll vom Künstler, der giebt, nicht verlangen, daß er Weib wird—daß er “empfängt” ...
Unsere Aesthetik war insofern bisher eine Weibs-Aesthetik, als nur die Empfänglichen für Kunst ihre Erfahrungen “was ist schön?” formulirt haben. In der ganzen Philosophie bis heute fehlt der Künstler ... Das ist, wie das Vorhergehende andeutete, ein nothwendiger Fehler; denn der Künstler, der anfangen würde sich zu begreifen, würde sich damit vergreifen—er hat nicht zurück zu sehen, er hat überhaupt nicht zu sehen, er hat zu geben— Es ehrt einen Künstler, der Kritik unfähig zu sein ... andernfalls ist er halb und halb, ist er “modern”...