Frühjahr 1888 14 [101-227]
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Theorie und Praxis
Kritik vom Werth der Moral
Gefährliche Unterscheidung zwischen “theoretisch” und “praktisch” z.B. bei Kant, aber auch bei den Alten
— sie thun, als ob die reine Geistigkeit ihnen die Probleme der Erkenntniß und Metaphysik vorlege
— sie thun, als ob, wie auch die Antwort der Theorie ausfalle, die Praxis nach eigenem Werthmaße zu beurtheilen sei.
Gegen das Erste richte ich meine Psychologie der Philosophen: ihr entfremdetster Calcul und “Geistigkeit” bleibt immer nur der letzte blasseste Abdruck einer physiologischen Thatsache; es fehlt absolut die Freiwilligkeit darin, Alles ist Instinkt, Alles ist von vorn herein in bestimmte Bahnen gelenkt ...
— gegen das Zweite frage ich, ob wir eine andere Methode kennen, um gut zu handeln als immer gut zu denken: letzteres ist ein Handeln, und ersteres setzt Denken voraus. Haben wir ein Vermögen, den Werth einer Lebensweise anderswie zu beurtheilen als den Werth einer Theorie durch Induktion, durch Vergleichung? ... Die Naiven glauben, hier wären wir besser daran, hier wüßten wir, was “gut” ist,—die Philosophen reden’s nach. Wir schließen, daß hier ein Glaube vorhanden ist, weiter nichts ...
“Man muß handeln; folglich bedarf es einer Richtschnur”—sagten selbst die antiken Skeptiker
die Dringlichkeit einer Entscheidung als Argument, irgend etwas hier für wahr zu halten! ...
Man muß nicht handeln:—sagten ihre consequenteren Brüder, die Buddhisten und ersannen eine Richtschnur, wie man sich losmachte vom Handeln ...
Sich einordnen, leben wie der “gemeine Mann” lebt, gut und recht halten, was er recht hält: das ist die Unterwerfung unter den Herdeninstinkt.
Man muß seinen Muth und seine Strenge so weit treiben, eine solche Unterwerfung wie eine Scham zu empfinden
Nicht mit zweierlei Maß leben! .. Nicht Theorie und Praxis trennen! —