Frühjahr 1888 14 [101-227]
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Philosophie als décadence
Warum die Philosophen Verleumder sind?
Die tückische und blinde Feindseligkeit der Philosophen gegen die Sinne
Die Sinne sind es nicht, die täuschen! —
— unsere Nase, von der, soviel ich weiß, noch nie ein Philosoph mit Ehrerbietung gesprochen hat, ist einstweilen das delikateste physikalische Instrument, das es giebt: es vermag noch Schwingungen zu constatiren, wo selbst das Spektroscop ohnmächtig ist.
Wie viel Pöbel und Biedermann ist in all diesem Haß!
Das Volk betrachtet einen Mißbrauch, von dem es schlechte Folgen fühlt, immer als Einwand gegen das, was mißbraucht worden ist: alle aufständischen Bewegungen gegen Principien, sei es im Gebiete der Politik, oder der Wirthschaft, argumentiren immer so, mit dem Hintergedanken, einen abusus als dem Princip nothwendig und inhärent darzustellen.
Das ist eine jammervolle Geschichte: der Mensch sucht nach einem Princip, von wo aus er den Menschen verachten kann,—er erfindet eine Welt, um diese Welt verleumden und beschmutzen zu können: thatsächlich greift er jedes Mal nach dem Nichts, und construirt das Nichts zum “Gott”, zur “Wahrheit”, und jedenfalls zum Richter und Verurtheiler dieses Seins ...
Wenn man einen Beweis dafür haben will, wie tief und gründlich die eigentlich barbarischen Bedürfnisse des Menschen auch noch in seiner Zähmung und “Civilisation” Befriedigung suchen: so sehe man die “Leitmotive” der ganzen Entwicklung der Philosophie an. Eine Art Rache an der Wirklichkeit, ein heimtückisches Zugrunderichten der Werthung, in der der Mensch lebt, eine unbefriedigte Seele, die die Zustände der Zähmung als Tortur empfindet und an einem krankhaften Aufdröseln aller Bande, die mit ihr verbinden, ihre Wollust hat.
Die Geschichte der Philosophie ist ein heimliches Wüthen gegen die Voraussetzungen des Lebens, gegen die Werthgefühle des Lebens, gegen das Parteinehmen zu Gunsten des Lebens. Die Philosophen haben nie gezögert, eine Welt zu bejahen, vorausgesetzt, daß sie dieser Welt widerspricht, daß sie eine Handhabe abgiebt, von dieser Welt schlecht zu reden. Es war bisher die große Schule der Verleumdung: und sie hat so sehr imponirt, daß heute noch unsere sich als Fürsprecherin des Lebens gebende Wissenschaft die Grundposition der Verleumdung acceptirt hat und diese Welt als scheinbar, diese Ursachenkette als bloß phänomenal handhabt. Was haßt da eigentlich? ...
Ich fürchte, es ist immer die Circe der Philosophen, die Moral, welche ihnen diesen Streich gespielt, zu allen Zeiten Verleumder sein zu müssen ... Sie glaubten an die moralischen “Wahrheiten”, sie fanden da die obersten Werthe,—was blieb ihnen übrig, als, je mehr sie das Dasein begriffen, um so mehr zu ihm Nein zu sagen? ... denn dieses Dasein ist unmoralisch ... Und dieses Leben ruht auf unmoralischen Voraussetzungen: und alle Moral verneint das Leben —
— Schaffen wir die wahre Welt ab: und, um dies zu können, haben wir die bisherigen obersten Werthe abzuschaffen, die Moral ...
Es genügt nachzuweisen, daß auch die Moral unmoralisch ist, in dem Sinne, in dem das Unmoralische bis jetzt verurtheilt worden ist. Ist auf diese Weise die Tyrannei der bisherigen Werthe gebrochen, haben wir die “wahre Welt” abgeschafft, so wird eine neue Ordnung der Werthe von selbst folgen müssen.
NB NB. Die scheinbare Welt und die erlogene Welt: ist der Gegensatz: letztere hieß bisher die “wahre Welt”, die “Wahrheit”, “Gott”. Diese haben wir abzuschaffen.