Frühjahr 1888 14 [101-227]
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décad[ence]
Religion als décadence
Gegen Reue und ihre rein-psychologische Behandlung
(Ich empfehle die Behandlung des Gewissenbisses mit der Mitchells-Kur — — )
Mit einem Erlebniß nicht fertig werden ist bereits ein Zeichen von décadence. Dieses Wieder-Aufreißen alter Wunden, das Sich-Wälzen in Selbstverachtung und Zerknirschung ist eine Krankheit mehr, aus der nimmermehr das “Heil der Seele”, sondern immer nur eine neue Krankheitsform derselben entstehen kann ...
diese “Erlösungs-Zustände” im Christen sind bloße Wechsel eines und desselben krankhaften Zustandes,—Auslegungen der epileptischen Crise unter einer bestimmten Formel, welche nicht die Wissenschaft, sondern der religiöse Wahn giebt
man ist auf eine krankhafte Manier gut, wenn man krank ist ... wir rechnen jetzt den größten Theil des Psychologischen Apparates, mit dem das Christenthum gearbeitet hat, unter die Formen der Hysterie und der Epilepsoidis.
diese ganze Praxis der seelischen Wiederherstellung muß auf eine physiologische Grundlage zurückgestellt werden: der “Gewissensbiß” als solcher ist ein Hinderniß der Genesung,—man muß Alles aufzuwiegen suchen durch neue Handlungen und möglichst schnell das Siechthum der Selbsttortur ...
man sollte die rein psychologische Praktik der Kirche und der Sekten als gesundheitsgefährlich in Verruf bringen ...
man heilt einen Kranken nicht durch Gebete, und Beschwörungen böser Geister: die Zustände der “Ruhe”, die unter solchen Einwirkungen eintreten, sind fern davon, im physiologischen Sinne Vertrauen zu erwecken ...
man ist gesund, wenn man sich über seinen Ernst und Eifer lustig macht, mit dem irgend eine Einzelheit unseres Lebens dergestalt uns hypnotisirt hat, wenn man beim Gewissensbiß Etwas fühlt wie beim Biß eines Hundes wider einen Stein,—wenn man sich seiner Reue schämt, —
Die bisherige Praxis, die rein psychologische und religiöse, war nur auf eine Veränderung der Symptome aus: sie hielt einen Menschen wiederhergestellt, wenn er vor dem Kreuze sich erniedrigte, und Schwüre that, ein guter Mensch zu sein ... Aber ein Verbrecher, der mit einem gewissen düsteren Ernst sein Schicksal festhält und nicht seine That hinterdrein verleumdet, hat mehr Gesundheit der Seele ... Die Verbrecher, mit denen D[ostoiewsky] zusammen im Zuchthaus lebte, waren sammt und sonders ungebrochene Naturen, — sind sie nicht hundert Mal mehr werth als ein “gebrochener” Christ?