Frühjahr 1888 14 [101-227]
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Philosophie als décadence
Warum Alles auf Schauspielerei hinauskam.
Die rudimentäre Psychologie, welche nur die bewußten Momente des Menschen rechnete, als Ursachen, welche “Bewußtheit” als Attribut der Seele nahm, welche einen Willen (d.h. eine Absicht) hinter allem Thun suchte
: sie hatte nur nöthig zu antworten: erstens, was will der Mensch?
Antwort: das Glück (—man durfte nicht sagen “Macht”: das wäre unmoralisch gewesen)—folglich ist in allem Handeln des Menschen eine Absicht, mit ihm das Glück zu erreichen —
zweitens, wenn thatsächlich der Mensch das Glück nicht erreicht, woran liegt es? An den Fehlgriffen in Bezug auf die Mittel.
Welches ist unfehlbar das Mittel zum Glück? Antwort: die Tugend.
Warum die Tugend? Weil sie die höchste Vernünftigkeit [ist], und weil Vernünftigkeit den Fehler unmöglich macht, sich in den Mitteln zu vergreifen
als Vernunft ist die Tugend der Weg zum Glück ...
die Dialektik ist das beständige Handwerk der Tugend, weil sie alle Trübung des Intellekts, alle Affekte ausschließt
Thatsächlich will der Mensch nicht das “Glück” ...
Lust ist ein Gefühl von Macht: wenn man die Affekte ausschließt, so schließt man die Zustände aus, die am höchsten das Gefühl der Macht, folglich Lust geben.
die höchste Vernünftigkeit ist ein kalter, klarer Zustand, der fern davon ist, jenes Gefühl von Glück zu geben, das der Rausch jeder Art mit sich bringt ...
die antiken Phil[osophen] bekämpften alles, was berauscht,—was die absolute Kälte und Neutralität des Bewußtseins beeinträchtigt ...
sie waren consequent, auf Grund ihrer falschen Voraussetzung: daß Bewußtsein der hohe, der oberste Zustand sei, die Voraussetzung der Vollkommenheit,
während das Gegentheil wahr ist - - -
Soweit gewollt wird, soweit gewußt wird, giebt es keine Vollkommenheit im Thun irgendwelcher Art. Die antiken Philosophen waren die größten Stümper der Praxis, weil sie sich theoretisch verurtheilten, zur Stümperei ... In praxi lief Alles auf Schauspielerei hinaus:—und wer dahinter kam, Pyrrho z.B., urtheilte wie Jedermann, nämlich daß in der Güte und Rechtschaffenheit die “kleinen Leute” den Philosophen weit über sind
Alle tieferen Naturen des Alterthums haben Ekel an den Philosophen der Tugend gehabt:
man sah Streithämmel und Schauspieler in ihnen.
| Urtheil über Plato: | seitens Epikurs |
| seitens Pyrrhos |
Resultat: in der Praxis des Lebens, in der Geduld, Güte und gegenseitigen Förderung sind ihnen die kleinen Leute über: ungefähr das Urtheil, wie es Dostojewsky oder Tolstoi für seine Moujik’s in Anspruch nimmt: sie sind philosophischer in der Praxis, sie haben eine beherztere Art, mit dem Nothwendigen fertig zu werden ... [Vgl. Lev Nikolayevich Tolstoy, Ma religion. Par le comte Léon Tolstoï. Paris: Fischbacher, 1885.]