Frühjahr 1888 14 [101-227]
14 [123]
Gegenbewegung
Anti-Darwin.
Was mich beim Überblick über die großen Schicksale des Menschen am meisten überrascht ist, immer das Gegentheil vor Augen zu sehen von dem, was heute Darwin mit seiner Schule sieht oder sehen will: die Selektion zu Gunsten der Stärkeren, Besser-Weggekommenen, den Fortschritt der Gattung. Gerade das Gegentheil greift sich mit Händen: das Durchstreichen der Glücksfälle, die Unnützlichkeit der höher gerathenen Typen, das unvermeidliche Herr-werden der mittleren, selbst der untermittleren Typen. Gesetzt, daß man uns nicht den Grund aufzeigt, warum der Mensch die Ausnahme unter den Creaturen ist, neige ich zum Vorurtheil, daß die Schule Darwins sich überall getäuscht hat. Jener Wille zur Macht, in dem ich den letzten Grund und Charakter aller Veränderung wieder erkenne, giebt uns das Mittel in die Hand, warum gerade die Selektion zu Gunsten der Ausnahmen und Glücksfälle nicht statt hat: die Stärksten und Glücklichsten sind schwach, wenn sie organisirte Heerdeninstinkte, wenn sie die Furchtsamkeit der Schwachen, der Überzahl gegen sich haben. Mein Gesammtaspekt der Welt der Werthe zeigt, daß in den obersten Werthen, die über der Menschheit heute aufgehängt sind, nicht die Glücksfälle, die Selektions-Typen, die Oberhand [haben]: vielmehr die Typen der décadence—vielleicht giebt es nichts Interessanteres in der Welt als dies unerwünschte Schauspiel ....
So seltsam es klingt: man hat die Starken immer zu bewaffnen gegen die Schwachen; die Glücklichen gegen die Mißglückten; die Gesunden gegen die Verkommenden und Erblich-Belasteten. Will man die Realität zur Moral formuliren: so lautet diese Moral: die Mittleren sind mehr werth als die Ausnahmen, die Decadenz-Gebilde mehr als die Mittleren, der Wille zum Nichts hat die Oberhand über den Willen zum Leben—und das Gesammtziel ist
nun, christlich, buddhistisch, schopenhauerisch ausgedrückt:
besser nicht sein als sein
Gegen die Formulirung der Realität zur Moral empöre ich mich: deshalb perhorrescire ich das Christenthum mit einem tödtlichen Haß, weil es die sublimen Worte und Gebärden schuf, um einer schauderhaften Wirklichkeit den Mantel des Rechts der Tugend, der Göttlichkeit zu geben ...
Ich sehe alle Philosophen, ich sehe die Wissenschaft auf den Knien vor der Realität vom umgekehrten Kampf ums Dasein, als ihn die Schule Darwins lehrt—nämlich überall die obenauf, die übrigbleibend, die das Leben, den Werth des Lebens compromittiren.— Der Irrthum der Schule Darwins wurde mir zum Problem: wie kann man blind sein, um gerade hier falsch zu sehen? ... Daß die Gattungen einen Fortschritt darstellen, ist die unvernünftigste Behauptung von der Welt: einstweilen stellen sie ein Niveau dar, —
daß die höheren Organismen aus den niederen sich entwickelt haben, ist durch keinen Fall bisher bezeugt —
ich sehe, daß die niederen durch die Menge, durch die Klugheit, durch die List im Übergewicht sind—ich sehe nicht, wie eine zufällige Veränderung einen Vortheil abgiebt, zum Mindesten nicht für eine so lange Zeit, diese w[äre] wieder ein neues Motiv, zu erklären, w[arum] eine zufällige Veränderung derartig stark geworden ist —
— ich finde die “Grausamkeit der Natur,” von der man so viel redet, an einer anderen Stelle: sie ist grausam gegen ihre Glückskinder, sie schont und schützt und liebt les humbles—ganz wie — — —
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In summa: das Wachsthum der Macht einer Gattung ist durch die Präponderanz ihrer Glückskinder, ihrer Starken vielleicht weniger garantirt als durch die Präponderanz der mittleren und niederen Typen ... In letzteren ist die große Fruchtbarkeit, die Dauer; mit ersteren wächst die Gefahr, die rasche Verwüstung, die schnelle Zahl-Verminderung.
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