Frühjahr 1888 14 [101-227]
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Philosophie als décadence
Man kann nicht streng genug darauf insistiren, daß die großen griechischen Philosophen die décadence jedweder griechischen Tüchtigkeit repräsentiren und contagiös machen ... Diese gänzlich abstrakt gemachte “Tugend” war die größte Verführung, sich selbst abstrakt zu machen: d.h. sich herauszulösen ...
Der Augenblick ist sehr merkwürdig: die Sophisten streifen an die erste Kritik der Moral, die erste Einsicht in die Moral ...
— sie stellen die Mehrheit (die lokale Bedingtheit) der moralischen Werthurtheile neben einander
— sie geben zu verstehen, daß jede Moral sich dialektisch rechtfertigen [lasse],—daß es keinen Unterschied mache: das heißt, sie errathen, wie alle Begründung einer Moral nothwendig sophistisch sein muß —
— ein Satz, der hinterdrein im allergrößten Stil durch die antiken Philosophen von Plato an (bis Kant) bewiesen worden ist
— sie stellen die erste Wahrheit hin, daß “eine Moral an sich,” ein “Gutes an sich” nicht existirt, daß es Schwindel ist, von “Wahrheit” auf diesem Gebiete zu reden
Wo war nur die intellektuelle Rechtschaffenheit damals?
die griechische Cultur der Sophisten war aus allen griechischen Instinkten herausgewachsen: sie gehört zur Cultur der Perikleischen Zeit, so nothwendig wie Plato nicht zu ihr gehört: sie hat ihre Vorgänger in Heraklit, in Demokrit, in den wissenschaftlichen Typen der alten Philosophie; sie hat in der hohen Cultur des Thukydides z.B. ihren Ausdruck
— und, sie hat schließlich Recht bekommen: jeder Fortschritt der erkenntnißtheoretischen und moralistischen Erkenntniß hat die Sophisten restituirt ...
unsere heutige Denkweise ist in einem hohen Grade heraklitisch, demokritisch und protagoreisch ... es genügte zu sagen, daß sie protagoreisch [sei], weil Protagoras die beiden Stücke Heraklit und Demokrit in sich zusammennahm
Plato: ein großer Cagliostro,—man denke, wie ihn Epicur beurtheilte; wie ihn Timon, der Freund Pyrrhos, beurtheilte — — [Vgl. Victor Brochard, Les Sceptiques Grecs, par Victor Brochard, maître de conférences suppléant à l'Ecole Normale Supérieure. Ouvrage couronné par l'Académie des sciences et politiques. Paris: Imprimerie Nationale, 1887:82-83.]
Steht vielleicht die Rechtschaffenheit Platos außer Zweifel? ... Aber wir wissen zum Mindesten, daß er als absolute Wahrheit gelehrt wissen wollte, was nicht einmal bedingt ihm als Wahrheit galt: nämlich die Sonderexistenz und Sonder-Unsterblichkeit der “Seelen”