Frühjahr 1888 14 [101-227]
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Die christlichen Moral-Quacksalber
Mitleid und Verachtung folgen sich in schnellem Wechsel, und mitunter bin ich empört, wie beim Anblick eines schnöden Verbrechens. Hier ist der Irrthum zur Pflicht gemacht—zur Tugend—der Fehlgriff ist Handgriff geworden, der Zerstörer-Instinkt systematisirt als “Erlösung”; hier wird aus jeder Operation eine Verletzung, eine Ausschneidung selbst von Organen, deren Energie die Voraussetzung jeder Wiederkehr der Gesundheit ist. Und besten Falls, wird nicht geheilt, sondern nur eine Symptomen-Reihe des Übels in eine andere eingetauscht ... Und dieser gefährliche Unsinn, das System der Schändung und Verschneidung des Lebens gilt als heilig, als unantastbar; in seinem Dienste leben, Werkzeug dieser Heilkunst sein, Priester sein hebt heraus, macht ehrwürdig, macht heilig und unantastbar selbst. Nur die Gottheit kann die Urheberin dieser höchsten Heilkunst sein: nur als Offenbarung ist die Erlösung begreiflich, als Art der Gnade, als unverdientestes Geschenk, das der Creatur gemacht ist.
Erster Satz: die Gesundheit der Seele wird als Krankheit angesehen, mißtrauisch ...
Zweiter Satz: die Voraussetzungen für ein starkes und blühendes Leben, die starken Begehrungen und Leidenschaften, gelten als Einwände gegen ein starkes und blühendes Leben
Dritter Satz: Alles, woher dem Menschen Gefahr droht, Alles, was über ihn Herr werden und [ihn] zu Grunde richten kann, ist böse, ist verwerflich,—ist mit der Wurzel aus seiner Seele auszureißen.
Vierter Satz: der Mensch, ungefährlich gemacht, gegen sich und Andere, schwach, niedergeworfen in Demuth und Bescheidenheit, seiner Schwäche bewußt, der “Sünder”—das ist der wünschbarste Typus, der, welchen man mit einiger Chirurgie der Seele auch herstellen kann ...