Frühjahr 1888 14 [101-227]
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Philosophie als décadence
Die große Vernunft in aller Erziehung zur Moral war immer, daß man hier die Sicherheit eines Instinkts zu erreichen suchte: so daß weder die gute Absicht, noch die guten Mittel als solche erst ins Bewußtsein traten. So wie der Soldat exercirt, so sollte der Mensch handeln lernen. In der That gehört dieses Unbewußtsein zu jeder Art Vollkommenheit: selbst noch der Mathematiker handhabt seine Combinationen unbewußt ...
Was bedeutet nun die Reaktion des Sokrates, welcher die Dialektik als Weg zur Tugend anempfahl und sich darüber lustig machte, wenn die Moral sich nicht logisch zu rechtfertigen wußte? ... Aber eben das Letztere gehört zu ihrer Güte ... ohne sie taugt sie nichts! ... Scham erregen war ein nothwendiges Attribut des Vollkommenen! ...
Es bedeutet exakt die Auflösung der griechischen Instinkte, als man die Beweisbarkeit als Voraussetzung der persönlichen Tüchtigkeit in der Tugend voranstellte. Es sind selbst Typen der Auflösung, alle diese großen “Tugendhaften” und Wortemacher ...
In praxi bedeutet es, daß die moralischen Urtheile aus ihrer Bedingtheit, aus der sie gewachsen sind und in der allein sie Sinn haben, aus ihrem griechischen und griechisch-politischen Grund und Boden ausgerissen werden und, unter dem Anschein von Sublimirung, entnatürlicht werden. Die großen Begriffe “gut” “gerecht” werden losgemacht von den Voraussetzungen, zu denen sie gehören: und als frei gewordene “Ideen” Gegenstände der Dialektik. Man sucht hinter ihnen eine Wahrheit, man nimmt sie als Entitäten oder als Zeichen von Entitäten: man erdichtet eine Welt, wo sie zu Hause sind, wo sie herkommen ...
In summa: der Unfug ist auf [s]einer Spitze bereits bei Plato ...Und nun hatte man nöthig, auch den abstrakt-vollkommenen Menschen hinzu[zu]erfinden
gut, gerecht, weise, Dialektiker—kurz die Vogelscheuche des antiken Philosophen,
eine Pflanze, aus jedem Boden losgelöst; eine Menschlichkeit ohne alle bestimmten regulirenden Instinkte; eine Tugend, die sich mit Gründen “beweist.”
das vollkommen absurde “Individuum” an sich! die Unnatur höchsten Rangs ...
Kurz, die Entnatürlichung der Moralwerthe hatte zur Consequenz, einen entartenden Typus des Menschen zu schaffen—“den Guten,” “den Glücklichen,” “den Weisen”
Sokrates ist ein Moment der tiefsten Perversität in der Geschichte der Menschen