Frühjahr 1888 14 [101-227]
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die Gegenbewegung: die Kunst
Das Rauschgefühl, thatsächlich einem Mehr von Kraft entsprechend:
am stärksten in der Paarungszeit der Geschlechter:
neue Organe, neue Fertigkeiten, Farben, Formen ...
die “Verschönerung” ist eine Folge der erhöhten Kraft
Verschönerung als nothwendige Folge der Kraft-Erhöhung
Verschönerung als Ausdruck eines siegreichen Willens, einer gesteigerten Coordination, einer Harmonisirung aller starken Begehrungen, eines unfehlbar perpendikulären Schwergewichts
die logische und geometrische Vereinfachung ist eine Folge der Krafterhöhung: umgekehrt erhöht wieder das Wahrnehmen solcher Vereinfachung das Kraftgefühl ...
Spitze der Entwicklung: der große Stil
Die Häßlichkeit bedeutet décadence eines Typus, Widerspruch und mangelnde Coordination der inneren Begehrungen
bedeutet einen Niedergang an organisirender Kraft, an “Willen” physiologisch geredet ...
der Lustzustand, den man Rausch nennt, ist exakt ein hohes Machtgefühl ...
die Raum- und Zeit-Empfindungen sind verändert: ungeheure Fernen werden überschaut und gleichsam erst wahrnehmbar
die Ausdehnung des Blicks über größere Mengen und Weiten
die Verfeinerung des Organs für die Wahrnehmung vieles Kleinsten und Flüchtigsten
die Divination, die Kraft des Verstehens auf die leiseste Hülfe hin, auf jede Suggestion hin, die “intelligente” Sinnlichkeit ...
die Stärke als Herrschaftsgefühl in den Muskeln, als Geschmeidigkeit und Lust an der Bewegung, als Tanz, als Leichtigkeit und Presto
die Stärke als Lust am Beweis der Stärke, als Bravourstück, Abenteuer, Furchtlosigkeit, gleichgültiges Wesen ...
Alle diese Höhen-Momente des Lebens regen sich gegenseitig an; die Bilder- und Vorstellungswelt der Einen genügt, als Suggestion, für die anderen ... Dergestalt sind schließlich Zustände in einander verwachsen, die vielleicht Grund hätten, sich fremd zu bleiben. Zum Beispiel
das religiöse Rauschgefühl und die Geschlechtserregung (zwei tiefe Gefühle, nachgerade fast verwunderlich coordinirt. Was gefällt allen frommen Frauen, alten und jungen? Antwort: ein Heiliger mit schönen Beinen, noch jung, noch Idiot ...)
die Grausamkeit in der Tragödie und das Mitleid (—ebenfalls normal coordinirt ...
Frühling, Tanz, Musik, alles Wettbewerb der Geschlechter—und auch noch jene Faustische “Unendlichkeit im Busen” ...
die Künstler, wenn sie etwas taugen, sind stark (auch leiblich) angelegt, überschüssig, Kraftthiere, sensuell; ohne eine gewisse Überheizung des geschlechtlichen Systems ist kein Raffael zu denken ... Musik machen ist auch noch eine Art Kindermachen; Keuschheit ist bloß die Ökonomie eines Künstlers:—und jedenfalls hört auch bei Künstlern die Fruchtbarkeit mit der Zeugungskraft auf ...
die Künstler sollen nichts so sehen, wie es ist, sondern voller, sondern einfacher, sondern stärker: dazu muß ihnen eine Art ewiger Jugend und Frühling, eine Art habitueller Rausch im Leibe sein.
Beyle und Flaubert, zwei unbedenkliche in solchen Fragen, haben in der That den Künstlern im Interesse ihres Handwerks Keuschheit anempfohlen: ich hätte auch Renan zu nennen der den gleichen Rath giebt, Renan ist Priester ...